Buch: "Wenn Mao das wüsste":China - das System gewinnt immer

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Janis Vougioukas will mit seinem Buch "Wenn Mao das wüsste - Menschen im neuen China" nicht das große Erklärstück zum Riesenreich schreiben. Seine Porträts interessanter Chinesen verraten trotzdem viel über das Land.

Gökalp Babayigit

Ein fremdes Land zu begreifen gehört zu den schwierigsten Unterfangen, ist es doch schon eine große Leistung, sein Heimatland in Ansätzen verstanden zu haben.

Ein Chinesin vor einer Tafel derShanghaier Börse: Das Land, schreibt Vougioukas, ist in einem tiefen Wandel. Aufbruch trifft auf Tradition, doch dahinter verbergen sich menschliche Schicksale. (Foto: Foto: Reuters)

Als besonders schwierig aber erweist es sich, ein Land wie China zu durchschauen. Zu groß sind die Ausmaße des kommunistischen Staates, zu gigantisch die Zahlen, die es statistisch zu erfassen versuchen. Wer kann einhundert Millionenstädte aufzählen? So viele gibt es alleine in China. Oder wer kann sich etwas unter 1,3 Milliarden Menschen vorstellen?

"Es hat viel mit dieser Zahl zu tun, die jeder kennt und die vielen Nicht-Chinesen Angst bereitet", schreibt Janis Vougioukas im Vorwort seines neuen Buches "Wenn Mao das wüsste - Menschen im neuen China".

Der Journalist, der unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und den Zürcher Tages-Anzeiger aus Schanghai berichtet, versucht nicht, mit Fernglas und Zollstock das große Erklärbuch zu diesem Land zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Aufbruch und Tradition abzuliefern.

Er hantiert lieber mit dem "Mikroskop", wie er schreibt: anhand von 23 Porträts interessanter Menschen, deren Leben und Schaffen mehr über die Politik, die Mentalität und die Befindlichkeit Chinas aussagt, als man auf den ersten Blick denkt.

Politik, Mentalität, Befindlichkeit: wenig greifbare Wörter, die mit einem menschlichen Schicksal verbunden werden - wie bei der Lebensgeschichte von Chen Dingxiang, dem Sprachlehrer, der in der höchsten gedruckten Autorität seiner Sprache, dem ehrwürdigen Xinhua-Wörterbuch, plötzlich Fehler fand. Jenes Buch, das er seit Jahrzehnten anbetete. Die "Bibel der Linguisten, das Lehrbuch der Studierenden, die Wahrheit auf Papier" hatte tatsächlich Fehler in sich, sehr viele Fehler.

Chen zählte 23.854 Fehler, doch das interessierte die Verantwortlichen nicht. Denn: "Der staatseigene Verlag ist eine Institution. Man könnte sagen: In der Welt der chinesischen Linguisten repräsentiert das Xinhua-Wörterbuch die Staatsmacht. Chen hatte entdeckt, dass auch der Staat Fehler macht."

Als auch in der neuen Auflage all seine Verbesserungsvorschläge unberücksichtigt blieben, lernte Chen das Gefühl von Machtlosigkeit kennen: "Er deckte die Fehler eines Systems auf, sprachliche und grammatikalische zwar, aber immerhin", schreibt Vougioukas. Und: "In China gewinnt immer das System."

Erfolgreicher gegen die Missstände kämpft da Chen Si, der "Retter auf dem Himmelpferd". Ehrenamtlich verbringt er seine Wochenenden auf seinem Posten: am südlichen Pfeiler der großen und vielbefahrenen Jangtse-Brücke in Nanjing. Sein Job ist es, Menschen vor dem Selbstmord zu bewahren. Ein Motorroller Marke "Himmelpferd" ist sein mobiles Einsatzzentrum. Die Brücke, 91 Meter hoch über dem Wasser des Jangtse, ist ein bevorzugter Ort selbstmordgefährdeter Chinesen.

Überhaupt ist Suizid ein großes Problem: Statistisch betrachtet begeht alle zwei Minuten ein Chinese Selbstmord. 280.000 Menschen bringen sich jedes Jahr um.

Vom Konkubinen-Killer bis zur schnellsten Frau Shanghais

Auch deshalb bekam Chen für seine ehrenamtliche Tätigkeit von offizieller Seite schon einen Preis verliehen - nur um festzustellen, gegen die Jahrhunderte alte chinesische Vorliebe für Selbstmord doch alleine zu stehen: "Der Vizebürgermeister schüttelte seine Hand und hielt eine Rede. Er sagte große Worte: 'Modellbürger', 'Entwicklung' und 'Leben'. Er sagte 'Vorbild', 'Gesellschaft' und 'Verantwortung'. 'Gemeinwohl'. Und Chen fühlte zum ersten Mal, wie sein Land ihm Dankbarkeit ausdrückte. Andere Freiwillige kamen auf die Brücke. Doch als der Sommer kam und die Tage heißer wurden, verschwanden sie und Chen stand wieder alleine da."

Auch wenn manche Porträts auf bedrückende Weise Missstände in China darlegen, verzichtet Vougioukas nicht darauf, die an Skurrilitäten reiche Seite Chinas zu illustrieren. Da ist die Geschichte von der "schnellsten Frau Schanghais", Ji Yueling, die in der Fahrerkabine des Transrapids sitzt, obwohl die Magnetschwebebahn aus einem unterirdischen Kontrollzentrum gesteuert wird. Das Cockpit ist nur dazu da, die Fahrgäste zu beruhigen.

Oder die Geschichte des "Konkubinen-Killers" Wei Wujun, der freilich keine Frauen umbringt, dafür aber als einer der ersten Privatdetektive Chinas die Manager bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Ehebruch, erwischt.

So gelingt dem Autor mithilfe seiner detailreichen Nahaufnahmen, was vielen selbsternannten China-Experten nicht gelingen kann: ein Gefühl für das große Ganze zu vermitteln.

Janis Vougioukas: "Wenn Mao das wüsste - Menschen im neuen China", erschien im Herbig-Verlag.

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