Buch von Jürgen Leinemann:Die Kunst der Schutzlosigkeit

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Der Journalist Jürgen Leinemann stellt in Berlin sein Buch "Das Leben ist der Ernstfall" vor, in dem er sich mit seiner Krebserkrankung auseinandersetzt.

Evelyn Roll

Es ist einer dieser seltenen Vormittage in Berlin, an denen der sogenannte politische Betrieb einen Moment inne hält, einatmet, ausatmet und Haltung annimmt; Haltung, Distanz und das Bewusstsein, dass es im Leben jedes Menschen zwei Möglichkeiten gibt, zwei Grundzustände, die wie zwei einander ausschließende Staatsbürgerschaften funktionieren: Die Staatsbürgerschaft der Gesunden und die im Land der Krankheit.

Jürgen Leinemann stellt auf einer Pressekonferenz in Berlin sein neues Buch "Das Leben ist der Ernstfall" vor. (Foto: Foto: dpa)

Angst vor dem dunklen Land

Vielleicht haben auch deswegen einige, die das andere, dunkle Land noch nicht hinreichend kennengelernt oder seine Existenz verdrängt haben, aus Angst und Abwehr in den letzten Wochen seltsame Artikel geschrieben über die Bücher von Christoph Schlingensief, Georg Diez und Jürgen Leinemann. Artikel, die dann etwa so überschrieben waren: "Lasst uns mit eurem Krebs in Ruhe!"

"Wer sich behelligt fühlt, braucht mein Buch ja nicht zu lesen", sagt an diesem besonderen Morgen der große Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann bei der Vorstellung seines neuen Buches "Das Leben ist der Ernstfall". Und er sagt es so ruhig und ohne jeden Vorwurf, wie er immer schon ruhig und ohne Vorwurf auf Dummheit und Vorurteile reagiert, weil er immer schon vor allem herausfinden und mitdenken will, was Menschen zu ihren Tun und Denken antreibt.

Er kann also sprechen. Er mag nie wieder in seinem Leben schlucken und etwas essen können. Aber er spricht. Er spricht mit Hilfe einer modernen Sprachkanüle, die sinnigerweise "Seele" heißt. Und was noch schöner ist für die vielen Freunde, Kollegen und Wegbegleiter, die zur Buchvorstellung an den Schiffbauerdamm gekommen sind: Es ist nicht eine quäkende Automatenstimme, wie jene gefürchtet haben mögen, die Jürgen Leinemann zum ersten Mal seit zwei Jahren, seit der Diagnose Zungenbodenkrebs, wieder erleben. Es ist seine Stimme, auch wenn sie ein wenig angestrengt und metallisch-belegt klingt. Es ist Jürgen Leinemanns Stimme, und das gilt im übertragenen Sinn ja auch für sein neues Buch.

"Dieses Buch ist nicht für Kranke geschrieben, sondern für alle, die ein Leben haben, das sie wirklich leben wollen", sagt die Reporterin und Philosophin Carolin Emcke, die "Das Leben ist der Ernstfall" vorstellt. Obwohl es von Bestrahlungen, Behandlungen, Entzündungen und Verwucherungen, von Wünschen und Flüchen, Hoffnungen und Illusionen erzähle, handele es eben nicht von der Angst vor dem Sterben, sondern von der Angst, nicht richtig gelebt zu haben.

Schon allein für die Kunst der Schutzlosigkeit, mit der Jürgen Leinemann seine Geschichte erzähle und damit allen anderen, die krank sind, einen Horizont aufzeige und eine Möglichkeit, sich von der Last zu befreien, auch noch "tapfer" sein zu sollen oder "umgänglich" oder "gelassen" oder "liebevoll", dafür allein schon gebühre ihm "Dank und unendlicher Respekt."

Was wirklich wichtig ist

Es gibt noch etwas, was man immer schon von Jürgen Leinemann lernen konnte: Distanz schärft den Blick. Das TV-Duell zum Beispiel fand er überhaupt gar nicht langweilig, sondern im Gegenteil "ein sehr ernsthaftes und wichtiges Gespräch über Politik". Er kann die Kritiken und Kommentare gar nicht verstehen, sagt er: "Als ob Politik erst interessant wird, wenn die Leute sich die Köpfe einschlagen!" Ob man denn, fragt eine junge Kollegin vorsichtig, eine Krankheit brauche, um zu erkennen was wirklich wichtig ist?

"Nein", sagt Leinemann und muss beim zweiten Teil seiner Antwort selber schmunzeln: "Dafür reicht es schon, in Ruhestand zu gehen." Sein Buch endet im letzten Winter auf Sylt. Jürgen Leinemann erzählt auch an diesem Berliner Morgen noch einmal, wie er mit aller Kraft darum gekämpft hat, dass die Krankheit ihm nicht auch noch die Möglichkeit nimmt, seine geliebte Insel wieder zu sehen: "Im ersten Jahr habe ich es dann nicht geschafft. Letztes Jahr Silvester aber waren Rosemarie und ich wieder da."

Und dann sagt Leinemann diesen Satz, der alle im Raum ein wenig tröstet und stärkt, bevor sie wieder zurück müssen in die besinnungslose Geschäftigkeit ihrer scheinbar so bedeutenden Laufrad-Alltage: "Und in diesem Jahr wollen wir auch wieder hinfahren."

© SZ vom 16.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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