Buch: "... sind eben alles Menschen":Der Kampf gegen die Macht des Augenscheins

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Wo unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Naturwissenschaftler gehen der Frage nach - und stellen fest: Es ist nicht die Moral oder das Böse, nicht das Bewusstsein und auch nicht der freie Wille.

Markus C. Schulte v. Drach

"Er nennt's Vernunft und braucht's allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein."

(Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Wohl jeder versteht, was Mephistos Diagnose in Goethes Faust meint:

Brutalität, Verbrechen, Kriege scheinen originäre Eigenschaften des Menschen zu sein, der seinen Verstand offenbar eher einsetzt, um seine Ziele zu erreichen, als zur Lösung von Problemen oder Konflikten.

Doch unterscheidet sich der Mensch wirklich so sehr vom Tier? Auch nach einem ganzen Jahrhundert der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung stößt die Feststellung, dass es etliche Übereinstimmungen im tierischen und menschlichen Verhalten gibt, auf heftigsten Widerstand.

Gerade wenn es darum geht, dass Naturwissenschaftler den alleinigen Anspruch des Menschen auf Moral, (Selbst-)Bewusstsein oder gar einen freien Willen in Frage stellen.

Können wir - anders als Tiere - frei entscheiden, trotz aller äußeren und inneren Zwänge, den physikalischen Möglichkeiten und Einschränkungen unserer Welt - der Welt, an die sich sowohl Mensch als auch Tier im Verhalten anpassen mussten, um zu überleben?

Solchen Fragen sind in einer Vortragsreihe der Akademie der Wissenschaften und der Georg-August-Universität in Göttingen eine Reihe von renommierten Natur- und Geisteswissenschaftlern nachgegangen - ihre Beiträge sind jetzt in dem Buch "... sind eben alles Menschen" nachzulesen.

Die Autoren schlagen einen faszinierenden Bogen von jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit bis hin zu Bereichen, die jenseits dessen liegen, was mancher sich überhaupt vorzustellen bereit ist.

Ausgehend von Einzelbeispielen zeigen die Fachleute Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Verhalten von Mensch und Tier auf und arbeiten sich von Erkenntnissen aus der Sinnes- und Orientierungsphysiologie von Fledermäusen und Ameisen bis hin zur Frage nach der Freiheit eines Christenmenschen.

So gewinnen selbst Tiere, die sich mit Hilfe von Umweltreizen orientieren, die wir niemals erleben können, letztlich über eine bildliche Repräsentation unserer Welt, die sich vermutlich gar nicht so sehr von unserer Vorstellung unterscheidet.

Ein gehörtes Bild der Welt

Fledermäuse etwa nutzen Schallwellen und Hörzellen ("sehende Ohren"), während Menschen auf Photonen und Sehzellen setzen. Doch während der Weg zur Repräsentation der Umwelt im Gehirn von Mensch und Flugsäuger ein anderer sein mag, unterscheidet sich das Bild von der Welt, das beide in ihrem Kopf zusammensetzen, vermutlich gar nicht so sehr.

Ob der Baum, der im Wege steht, gesehen oder gehört wird, ist letztlich egal. Es ist ein Baum, und er steht im Weg.

Doch woher wissen wir eigentlich, was ein Baum überhaupt ist? Wir müssen uns, so erklärt uns der Psychologe Rainer Mausfeld von der Kieler Universität, von der Vorstellung verabschieden, dass wir Kategorien wie "physikalisches Objekt", "Lebewesen" oder Attribute wie "groß" oder "gefährlich" durch Erfahrungen gewonnen haben.

Vielmehr verfügen wir über eine Konzeptstruktur, die bereits in unserer biologischen Ausstattung enthalten ist. Dass wir uns deshalb häufig Illusionen über die Realität machen, akzeptieren wir in vielen Bereichen.

So hat man sich in den Naturwissenschaften daran gewöhnt, dass der Alltagsverstand in Dingen der Wissenschaft keine Autorität besitzt.

Geht es allerdings um unsere eigene Psyche, liegt die Sache anders. Nur ungern lassen wir uns von der Vorstellung abbringen, dass unser eigenes subjektives Erleben uns in die Irre führt. Deshalb, so Mausfeld, kann die gesamte Geschichte der Naturwissenschaften als ein Kampf gegen die Macht des Augenscheins gelesen werden.

Noch schwerer zu akzeptieren sind für viele Menschen allerdings die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen von Soziobiologen wie Peter Kappeler und Wolfgang Wickler.

Man mag von der Soziobiologie halten, was man will, doch die Fachleute finden eine ganze Reihe von interessanten biologischen und gewissermaßen bio-kulturelle Erklärungsansätzen selbst für Verhaltensweisen wie Selbstmord und Zölibat, Selbstmordattentäter und Märtyrer, die sich mit dem der Soziobiologie zugrunde liegenden Prinzip der Ausbreitung der Gene eigentlich schlecht vertragen.

Wie das Böse in die Welt kommt

Auch auf die Frage, wie das Böse in der Welt kommt, bieten Soziobiologen eine Antwort an.

Was Eckart Voland von der Universität Gießen dazu sagt, ist zwar starker Tobak, doch es ist sicher besser, sich dieser biologischen Betrachtungsweise zu stellen als sie von vorn herein abzulehnen - auch wenn man bei dieser Betrachtungsweise des Bösen mit dem gleichen Grauen erfüllt sein mag, wie die Affen-Forscherin Jane Godall, als sie zuschauen musste, wie die von ihr so geliebten Schimpansen sich in einem unglaublich grausamen Stammeskrieg gegenseitig umbrachten.

"Die intellektuelle Herausforderung", so Voland, "besteht darin, das Böse des Menschen als integralen Bestandteil seiner Natur zu begreifen, nicht als historischen Rest, nicht als Atavismus, der launenhaft immer mal wieder den Glanz der ansonsten strahlenden Krone der Schöpfung beschädigt, sondern als Ausfluss artspezifischer evolutionärer Angepasstheit, die den evolutionären Erfolg des Homo sapiens maßgeblich mit begründet."

Auch böse ist der Mensch - anders als Mephisto meint - nicht tierischer als ein Tier. Verhaltensweisen, die bei Menschen als böse angesehen werden, finden sich auch im Tierreich: Tödliche Auseinandersetzungen zwischen Rivalen, sexuelle Gewalt, Vergewaltigung, Kindstötung, Gruppenkonflikte bis zum tödlichen Ausrottungs-Krieg zwischen zwei Gruppen von Menschenaffen.

Was als böse wahrgenommen wird, hängt mit unseren Moralvorstellungen zusammen. Die aber werden bestimmt von den evolvierten Strategien und Vorlieben, von einer so genannten Prägung und den jeweils vorgefundenen Lebensbedingungen, die bestimmen, welches das für die Verbreitung unserer Gene bestmögliche Verhalten ist.

Die Gefühle haben das letzte Wort

Nicht fehlen darf in so einem Buch natürlich der Hirnforscher, der dem Menschen seinen freien Willen abspricht. Hier ist es Gerhard Roth, der dem Menschen zwar die Fähigkeit zur bewussten Entscheidung unterstellt.

Doch es ist nicht die Ratio, die das letzte Wort hat, sondern das limbische System - und damit sind es die Gefühle. Am wohlsten fühlen wir uns demnach zwar häufig, wenn für unsere Entscheidung auch die besten Gründe sprechen. Fühlen wir uns aber wohler, wenn wir gegen die Vernunft handeln, dann tun wir eben dies.

Und ob wir anders könnten, stellt Roth grundsätzlich in Frage - und damit auch gleich die Idee von der Schuldfähigkeit vor Gericht. Die Annahme, dass unter identischen inneren und äußeren Bedingungen eine alternative Handlungsmöglichkeit bestanden haben soll, macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Handlung auch ohne Veränderung von Überzeugungen, Wünschen oder Bedürfnissen hätte geschehen können. Dann aber, so Roth, läge es nicht mehr am Handelnden, sondern am Zufall. Damit wäre das Urheberprinzip verletzt.

Natürlich kommt Widerspruch - hier von dem Gerichtsgutachter und Psychologen Hans-Ludwig Kröber von der Berliner Charité. Er will dem Menschen weiterhin die Fähigkeit zugestehen, freie Entscheidungen treffen zu können - und zwar auf der Grundlage sorgfältiger Güterabwägung.

Kröber allerdings setzt mehr auf Polemik als auf wissenschaftliche Argumente. Sicher hätte es dieser Diskussion besser getan, mit Peter Bieri oder Jürgen Habermas einen der Philosophen zu Wort kommen zu lassen, die den Hirnforschern widersprechen.

Insgesamt bilden die Vorträge auf jeden Fall einen hochinteressanten Ausschnitt aus einem der für unser Menschenbild bedeutendsten Bereiche der naturwissenschaftlichen Forschung ab.

Zwar sind die Texte für den Laien nicht ganz einfach zu verstehen und gewisse Vorkenntnisse bei der Lektüre helfen. Doch es lohnt, sich der Herausforderung zu stellen.

NORBERT ELSNER, GERD LÜER: "... sind eben alles Menschen" Verhalten zwischen Zwang, Freiheit und Verantwortung. Wallenstein Verlag, Göttingen 2005. 295 Seiten. 19 Euro.

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