Buch: Michel Houllebecq:Von Engeln, die quengeln

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Das unglaubliche Werk des französischen Schriftstellers.

Burkard Müller

Wer glaubt, dass die Deutschen zu viel jammern, der sollte mal nach Frankreich schauen. Dort gibt es eine ganze literarische Schule, die den schönen Namen "deprimisme" trägt. Ja, ein wirklich schöner Name; behaglich scheint er sich ins Trübe einzuhausen und morbid an der Fäulnis zu wärmen. So kommt es jedenfalls deutschen Ohren vor, die sich des Klangs der französischen Sprache entwöhnt haben und darin nur noch den fernen Ton eines frivolen Zwitscherns erkennen mögen. Zum Zwillings-Unglück der beiden Kulturnationen gehört es nämlich auch, dass sie, die sich einst so fruchtbar und so glorios gestritten haben, voneinander einfach nichts mehr wissen wollen und ihr geschrumpftes und gerade darum schweres Schicksal schweigend je für sich tragen. So ziemlich das Einzige, was von dort noch herüberdringt, ist Michel Houellebecq.

Das ist der Geschmack von Houellebecq: Szene aus dem Film "Elementarteilchen". (Foto: Foto: dpa)

Der DuMont-Verlag, der jetzt Houellebecqs gesammelte Gedichte vorlegt - drei Bände im Schuber, zweisprachig, eine aufwendige Sache -, vermittelt in der Aufmachung den Eindruck, als käme auf den Leser ein zäher, säuerlicher Sirup zu. Band eins zeigt ringsum das Bild eines obskuren, aber zweifellos fetttriefenden Gebäcks, der zweite pinkfarbene Plastikrosen an einem Schießstand, der dritte ein Puppen-Endlager. Und dazu überall Zitate des Autors: "Warum können wir bloß nie / Nie / geliebt werden?" Wie dieses zweite Nie quengelt! "Ich bin nicht froh, / Aber ich bin in meinem Zimmer / Die Engel halten meine Hand, / Ich spüre, wie die Nacht sich senkt." Engel! Ein Lyriker, der da hinlangt, betätigt erfahrungsgemäß den Selbstzerstörungsknopf. Was weiß die Kritik dazu zu sagen? Offenbar vor allem Ratloses, wie ebenfalls der glanzkaschierte Umschlag mitteilt: ",Ist das daneben? Ist das großartig? Houellebecqs Poesie ist jenseits von Gut und Böse.' - Basler Zeitung". Houellebecq wäre demnach im Reich der Dichtkunst, was Eddy the Eagle im Reich des Skispringens war: ein unermüdlich Mitwirkender von so phänomenaler Glücklosigkeit, dass er mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Profis und Sieger. Mit einer solchen Geste des Kopfkratzens aber, die das gesamte Werk der Rezeption durch Camp und Kult empfiehlt, sollte literarische Kritik sich nicht begnügen. Ihr ist, und davor darf sie sich nicht drücken, die Auskunft über das Diesseits des Guten und Schlechten auferlegt.

Und doch hat der Rezensent der Basler Zeitung richtig gefühlt, dass in diesen Gedichten etwas Verblüffendes geschieht. Man könnte die Schultern zucken, wenn einfach so ein heutiger Normalfall von Prosa im anmaßenden Zeilenbruch vorläge. Aber Houellebecq schreibt Poesie in engerem Sinn, mit Strophen, Reimen und Versmaß; selbst Sonette kommen vor. Die Leichtigkeit, mit der dies im Französischen klappt, das ja Reimwörter ohne Zahl hat und die Silben des Verses nur zählt, nicht durch Betonung ordnet, benutzt Houellebecq mit einer wahrhaft schamlosen Lizenz.

Ja, Schamlosigkeit ist es, was diese Produktion auszeichnet. Von jeher genoss der lyrische Dichter das Vorrecht der Klage; doch stets mit der Bedingung: Klage schön! Die Antike verglich sein Los mit dem des Unglücklichen, der im ehernen Stier des Tyrannen Phalaris eingeschlossen war; die hohle Metallskulptur wurde auf Rotglut erhitzt, der Eingeschlossene lebendig gebraten; aber am Mund des Stiers war eine Flöte angebracht, durch die die Todesschreie des Opfers sich dem Ohr des Außenstehenden in eine angenehme Musik verwandelten. Houellebecq kündigt dieser grausamen Konvention die Gefolgschaft auf, darin besteht sein eigentlich kreativer Akt. Wer leidet, darf schreien; er darf sogar quengeln. Das ästhetische Erlebnis bei diesem Autor, in seiner Lyrik notwendig noch eindrücklicher als in der Prosa, besteht darin, dass man seinen Ton der Wehleidigkeit als den Ton der Wahrheit erkennt; dass man ihm zuletzt recht geben muss wie einem Kind, welches plärrt und lästig wird, weil ihm eine Kränkung widerfahren ist, die ihm die Fassung raubt.

"Ich fühle mich auf meinen Stuhl gebannt / Wie ein allzu gut genährter Engerling; / Dabei duften die Frauen nach Erdbeeren, / Nach Reseda und Patschuli." Das ist, wie ein Bild, das ein Kind gemalt hat, höchst anschaulich bei einem völligen Desinteresse an Dingen wie Perspektive oder Proportion; und es gelingen dem Autor, auch das passt dazu, inmitten der Klage komische Wirkungen, von denen er nichts zu ahnen scheint: im Französischen reimt sich "bien nourri" mit "patchouli". Eine kraftvolle Oralerotik macht sich Luft, die danach strebt, Frauen wie Erdbeeren aufzuessen; sie läuft unausweichlich in den Hafen der Enttäuschung ein. Den Angelpunkt der Klage bildet das "Dabei - Pourtant": Mit vorwurfsvoll bestürzter Miene wendet es sich an eine elterliche und darum allmächtige Instanz, von der es, dass es sie nicht gibt, noch nicht begriffen hat. Houellebecq befindet sich nicht jenseits, sondern diesseits von Gut und Böse, im Stand einer Unschuld, die man der raffinierten, altersmüden Kultur, der er angehört, nicht mehr zugetraut hätte.

Der Übersetzer steht hier vor einer schwierigen Wahl: Er kann versuchen, die äußere Form, mit erheblich erhöhtem Aufwand, im Deutschen nachzuschaffen und auf diese Weise "bessere", jedenfalls ambitioniertere und kniffligere Gebilde zu erzeugen, die wahrscheinlich sogleich der Abstrusität verfielen; oder er kann das lyrische Geschenkpapier wegreißen, so dass kahl und sachlich der Inhalt hervortritt. Er muss also stilistisch auf- oder abwerten, auf derselben Stufe stehen bleiben kann er nicht. Hinrich Schmidt-Henkel hat sich richtig entschieden, das heißt, für die Abwertung.

So steht bei Houellebecq: "Dans le métro, les jeunes femmes / Circulent dans une ambiance de drame / Au mois de mai, si désirables; / Je suis sorti sans mon cartable." Schmidt-Henkel macht daraus: "Die jungen Frauen in der Metro / Bewegen sich durch eine theatralische Atmosphäre / Im Monat Mai, äußerst begehrenswert; / Ich bin ohne meine Aktentasche unterwegs." Das ist schwunglos und getreu und vermutlich das einzig Angemessene, denn alles andere käme bei Wilhelm Busch oder Eugen Roth heraus. Und warum sollte der Übersetzer mehr Mühe investieren, als es der Autor getan hat? Das wäre, auf vertrackte Weise, auch wiederum ein Fehlgriff.

Denn diese Lyrik sprudelt wesenhaft. Ihren Ausdruck findet sie wie ein Kind die Packung mit den Wachsmalkreiden. Die Frage, ob das schlecht oder gut sei, wird man doch mit einem Paradox beantworten müssen: Gut, weil schlecht; das Gedicht ist unentbehrlich, damit etwas anderes aus ihm wird; die Erfahrung bricht sich Bahn, indem sie die ihr einzig mögliche Form misshandelt. Linkisch, bunt und unverwechselbar: so zieht diese Schreibhand ihren Weg übers Papier.

Und dabei kommt es hier und dort zu Überraschungen, zu richtigen Gedichten nämlich. "Die von Pfeilern überragten Rübenfelder / Glänzten. Wir fühlten uns uns selber fremd, heiter. / Der Regen fiel geräuschlos, einem Almosen gleich; / Unser verhaltener Atem schuf rätselhafte Embleme / Vorm morgendlichen Himmel." Indem das banale Alte, die Ödnis der Landwirtschaft, mit dem banalen Neuen, der nackten Brutalität der Autobahnbrücke (die dürfte mit den "pylônes" gemeint sein), unvermittelt zusammentrifft, ergibt sich eine große Szene, die Raum schafft für das plötzliche Glück im Sinnlosen.

Ein anderes Gebilde, das von der Tristesse eines Urlaubs in der Karibik handelt, beginnt: "L'Eternité en pension complète - Die Ewigkeit bei Vollpension". Das ist es. Das spricht den Geistes- und Leibeszustand des alten Europa mit aller wünschenswerten Knapp- und Klarheit aus. "Was ist der Unterschied zwischen Frankreich und Russland?", fragte jüngst ein französischer Journalist seine Landsleute; und gab die Antwort selber: In Russland sei alles möglich und nichts leicht; in Frankreich alles leicht und nichts möglich. Das zweite ist bei Houellebecq Thema, das erste Gestalt geworden.

MICHEL HOUELLEBECQ: Suche nach Glück - Wiedergeburt - Der Sinn des Kampfes. Gedichte, 3 Bände. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. DuMont Verlag, Köln 2006. Zus. 589 Seiten, 29,90 Euro.

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