BRD-Serie (36):Die "DDR"

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GÜNTER GAUS

Die Gänse des Kapitols sind eine Bildungschiffre des ganzen Abendlandes. Aber nur die Westdeutschen können sagen, dass unter ihnen eine Zeitlang auch Gänsefüßchen zum allgemeinen Bildungsgut gehört haben. Die Gänse, Opfervögel auf dem Kapitol, haben einst, der Lateiner weiß es, das alte Rom gerettet, weil sie, aufgeschreckt von Waffengeklirr, zu schnattern anfingen und so einen nächtlichen Überraschungsangriff des Feindes auf die bis dahin schlafende Stadt vereitelten. Und was haben die Gänsefüßchen gerettet? Das ist nicht so fabelhaft zu beantworten, wie bei den kapitolinischen Gänsen.

SZ vom 07.09.2001 (Foto: N/A)

Die Gänsefüßchen, so die altmodische Bezeichnung für An- und Abführungsstrichelchen, gehören politisch in die mittleren Jahre der alten Bundesrepublik. Konservative wie rechtspopulistische, auch reaktionäre Zeitungen, angeführt von den Blättern des Springer-Konzerns, setzten das Namenskürzel des anderen deutschen Nachkriegsstaats DDR in Gänsefüßchen: "DDR". Mit dieser typografischen Garnierung, je nach Schriftgrad fett, halbfett oder mager, immer trotzig, sollte die Staatlichkeit der Deutschen Demokratischen Republik bestritten werden. Der volle Name der DDR wurde in diesen Organen ohnehin nicht gedruckt. Nur DDR in Gänsefüßchen: "DDR".

Kurt Georg Kiesinger, ein sehr vorübergehender Bundeskanzler, drückte in einer Bundestagsdebatte die Gänsefüßchen rhetorisch aus, indem er die DDR ein "Phänomen" nannte. Es war sein Versuch, eine Realität wahrzunehmen, ohne sie beim Namen zu nennen. Anders gesagt: ein Versuch (er scheiterte), mit der DDR ins Gespräch zu kommen und dennoch die Freundschaft der Gänsefüßchen- Presse nicht zu verlieren. Wer kennt die Namen noch, die Frontverläufe, das Augenzwinkern, die Widersprüchlichkeiten: etwa die Begebenheit, wie ein bedeutender Verleger, der nachdrücklich auf Gänsefüßchen bestand, buchstäblich Pferdegeschäfte mit der DDR tätigte. Es ist so lange her.

Das Bild, das die Westdeutschen seinerzeit von der DDR hatten, der Begriff, auf den sie sie brachten, war nach meiner Erfahrung oft vielschichtiger, lebensnaher, als die politische Agitation mit und ohne Gänsefüßchen gegen den deutschen Staat "drüben", der denselben Geburtsfehler hatte wie die BRD: aus einer Teilung hervorgegangen zu sein. Die Klischees des "Kuratoriums Unteilbares Deutschland" von dem nimmermüden Denken an die Brüder und Schwestern östlich der Elbe ließen - ihrer Natur nach - landsmannschaftliche Unterschiede beispielsweise unberücksichtigt. Nur ihre intellektuelle Schlichtheit und emotionale Einfalt machten die Klischees agitatorisch brauchbar. Hierin lag etwas Gesamtdeutsches. An der ebenfalls geteilten Wahrheit wäre die Agitation beiderseits der Elbe zuschanden geworden. Immerhin führten beide Seiten - kalten - Krieg gegeneinander.

Meine erste Redakteursstelle bekam ich Ende 1952 bei der Badischen Zeitung in Freiburg. Die Südbadener, so lernte ich schnell, waren mit Herz und Verstand an der Frage einer Überwindung der Nachkriegs- Teilung in Nord- und Südbaden und der Herstellung eines gesamtbadischen Bundeslandes aufs höchste interessiert. Lange danach erst und weit weniger nahmen sie Interesse an Berlin, der Umwandlung der alten Länder in der DDR in Bezirke und den allgemeinen ostelbischen Lebensbedingungen. Das war so weit weg. Auch hatten sich nach 1945 in Süddeutschland althergebrachte antipreußische Gefühle heftig wiederbelebt. Die Preußen: Das waren die Leute, die 1848 die badischen Demokraten in Rastatt niedergemacht hatten. Wohl wahr.

Was hatte das "Kuratorium Unteilbares Deutschland" lernen und gebrauchen können von der engagierten, wahrhaft volksnahen, also nicht nur repräsentativ-demokratischen Debatte in Südbaden über den Probe auf Gerechtigkeit, als was die Lösung des Streits weithin verstanden wurde: ob nämlich die badischen Stimmen in der Frage: Gesamtbaden oder Südweststaat von der größeren Stimmenzahl der Württemberger majorisiert werden dürften oder - aus einsichtigen Gründen - für diesmal ein besonderes Gewicht erhalten müssten? Hätte das Kuratorium aus der badischen Wunde im demokratischen Empfinden die Lehre ziehen sollen, im Wendejahr 1990 vorzuschlagen, die Brüder und Schwestern in der DDR gesondert abstimmen zu lassen, bei ruhendem Stimmrecht der Genossen der SED, welche sozialen Errungenschaften, wie das in ihrem Gänsefüßchen-Staat genannt wurde, sie mehrheitlich in den gesamtdeutschen Staat eingebracht sehen wollten?

Baden war nicht nur nach Kilometern, sondern auch in der geistigen Grundhaltung weit entfernt von Mecklenburg und Sachsen; damals wie heute. Diese äußere wie innere Distanz übertrug sich auf die Anteilnahme am Leben der Deutschen in der DDR. Sie war weit geringer, als in den Blättern der BRD, denen die Gänsefüßchen als Politik galten, behauptet wurde. Das gilt sogar für die näher an der DDR siedelnden Niedersachsen. Natürlich bewirkten verwandtschaftliche Beziehungen ein engeres Verhältnis. Aber Besuche "drüben" verstärkten gelegentlich auch Missverständnisse. Man kam mit festen Überzeugungen und die Verwandten hatten vielerlei Gründe, nicht zu widersprechen. Das "Päckchen nach drüben" entstand sozusagen mit den Gänsefüßchen und war nahrhafter als sie. Aber wegen des propagandistischen Aufhebens, das von ihm gemacht wurde, geriet es immer wieder einmal in Kabarettprogramme.

Dramatische Vorgänge - der Mauerbau, spektakuläre Fluchtfälle, geglückte oder tragische - schufen einige vorübergehende Ausnahmen in der westdeutschen Grundhaltung, sich selbst genug zu sein. Nur der Rausch der ersten Wendejahre nach 1989/1990 hat kurze Zeit die - schauerliche - Wahnvorstellung von einem dauerhaft einheitlichen Deutschen wieder einmal entstehen lassen. Sobald sich dieses virtuelle Wesen für die Dauer eines nationalen Überschwangs materialisiert, sobald es aus dem abstrakt Erträumten ins konkrete Handeln vordringt, kann das Einhalten eines Sicherheitsabstands lebenswichtig werden. Damals jedenfalls, lange vor der Wende, als die Gänsefüßchen den Bundesbürgern etwas sagen sollten, besagten sie in der Regel norddeutschen Nationalliberalen, vornehmlich in der Akademikerschaft vertreten, mehr als süddeutschen Freisinnigen aus dem gewerblichen Mittelstand. Gemeinsam war beiden Positionen ein Antikommunismus, der die Charakteristika eines Totalitarismus annehmen konnte.

Auch Kleinbürger und Industriearbeiter, die es in den mittleren Jahren der BRD noch in nennenswerter Zahl gab, hatten in mancher Hinsicht ihr eigenes diffuses Bild von der DDR und ihrer Gesellschaft. Es deckt sich nur teilweise mit den plakativen Darstellungen in den nennenswerten Medien der BRD. Neben den landsmannschaftlich bestimmten Abweichungen vom Engagement der Gänsefüßchen gab es also auch sozial vorgegebene Unterschiede im Blickwinkel nach "drüben". Ganz gewiss drückte sich in der anderen Sicht der westdeutschen Unterschicht keine Zustimmung zu den Verhältnissen im neuen Ostelbien aus. Die Arbeitnehmer in der voll erblühten Sozialen Marktwirtschaft (die im Kern womöglich doch nichts anderes war als Vollbeschäftigung) konnten und wollten sich dem Gesamturteil der tonangebenden Kräfte über die "vom Russen" vorgeschriebene deutsche Nachkriegs-Alternative im Ostblock nicht entziehen. Aber nicht alles in der DDR, soweit es ihnen bekannt wurde und wovor Mittelstand und Oberschicht in der BRD schauderte, erschreckte sie; es sei denn, sie standen unter starkem kirchlichen Einfluss.

Deutschlands Teilung nach dem verlorenen Krieg manifestierte sich nicht nur in der Bildung zweier deutscher Staaten. Binnen weniger Jahre entwickelte sich aus der Trennung auch eine weitgehende soziale Teilung. Die Oberschicht in jenem Teil Deutschlands, in dem bald darauf die DDR entstand, war schon 1945 vor der Roten Armee in den Westen geflohen. In den folgenden Jahren, verstärkt nach 1949, dem Geburtsjahr der beiden Nachkriegsstaaten, vertrieb vor allem die Eigentums- und Bildungspolitik der SED große Teile des Mittelstandes, auch des bäuerlichen, und der akademisch Gebildeten aus der DDR in die BRD. Ausnahmen bestätigten die Regel. Zurück blieb, mehr oder weniger auf sich gestellt, das, was ich 1983 in einem Buch über meine Beobachtungen in der DDR das "Staatsvolk der kleinen Leute" genannt habe: mit seinen Gewohnheiten, seinem Lebensstil, seinen Bedürfnissen - seinen großen Stärken und vielen Schwächen. Im Laufe von vierzig Jahren, bis zur Wendezeit, hatte sich die Gesellschaft der DDR neu gegliedert, war sie vielschichtiger geworden. Aber ihre mehrheitlich gemeinsame soziale Herkunft war ihr noch ganz nahe. Manches von dem, was den Westdeutschen schwer verständlich war, sehr fremd, als sie nach 1989 in die entschwindende DDR kamen, hat in der sozialen Teilung Deutschlands seine Wurzeln.

Mein Hinweis im Jahr 1983 auf das bedeutungsvolle Faktum dieser Teilung über das Staatliche hinaus blieb so gut wie unbeachtet. War es so, weil die Sozialgeschichte im bürgerlichen Deutschland niemals den Rang einnehmen konnte, den die dynastisch-staatlich, außenpolitisch dominierte Geschichtsschreibung besetzt hält? Oder waren die Herrschaften der Gänsefüßchen besorgt, die Kenntnisnahme eines sozialen Faktors könnte die Geschlossenheit der westlichen Position komplizieren? Wie auch immer: Lange bevor ich das besondere Staatsvolk der DDR kennen lernte, merkte ich auf, wenn ich in den fünfziger und sechziger Jahren, der hohen Zeit der Gänsefüßchen, an Familienfesten der mütterlichen Verwandtschaft teilnahm. Bei Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen, runden Geburtstagen und Beerdigungen kamen die älteren Halbbrüder meiner Mutter zusammen. Sie waren Facharbeiter. Die "bessere" Familie wahrte Abstand, räumte aber ein, immerhin hätten sie "etwas gelernt", seien sie "nicht einfach in die Fabrik" gegangen. Die vier waren im Ersten Weltkrieg gewesen und von der Novemberrevolution 1918 nicht unberührt geblieben. Die Weimarer Republik hatte sie politisch getrennt: Einer war ein Mitläufer der Nazis geworden, einer ein Sozi, einer ein Kommunist, einer ein Unpolitischer. Im Familienkreis in der Gänsefüßchen-Zeit sprachen sie gelegentlich von "Sachen da drüben".

Zwischen Kaffeetafel und Abendbrot, den obersten Hosenknopf geöffnet, noch nicht streitsüchtig, erörterten sie dies und das, wovon sie, meist wohl in der Frühstückspause am Arbeitsplatz, gehört hatten. Sie waren bemüht, nicht lange, nicht gründlich, aber durchaus interessiert, Vages in Konkretes zu fassen. Ein Punkt wurde besonders oft erwähnt: keine Eigentümer- Chefs, keine "Herr-im-Hause-Typen", keine Schnösel von Juniorchefs. Erwähnt wurde auch, dass bei Freunden von Onkel Männe Anfang der fünfziger Jahre schon einmal die Polizei gewesen war, die "politische", um "Broschüren" zu suchen. Nach dem Abendessen stritten Mutters Halbbrüder gewöhnlich. Onkel Paul und Onkel Männe waren der Vergangenheit verhaftet: Wer hatte 1933 versagt, SPD oder KPD? Onkel Arthur, Hausmeister in einem Damenstift, Pächter eines Kleingartens, führte die Eigentumsfrage gegen die DDR ins Feld. Onkel Ernst trank Likör mit den Damen.

Das Gebot der Gänsefüßchen über die rechte Auffassung von den deutschen Gegebenheiten hatte also in Teilfragen seine Dissidenten oder traf da und dort auf Laue aus mangelndem Interesse. Im Herbst 1980 (am 15. Oktober) besuchte ich den beeindruckenden Wahrer der Zeichen in seiner Residenz am Rande West-Berlins. Wir waren seit längerem verabredet. Anfang des neuen Jahres würde ich meinen Posten als Ständiger Vertreter der BRD in Ost-Berlin verlassen. Axel Springer wollte mit mir über das real existierende Leben in der DDR sprechen. Er empfing mich, die liebenswürdige Frau Friede an seiner Seite, zu einem frühen Abendessen. In einem kleinen Speisesaal, mit hellem Holz getäfelt, darin eingelassen Gemälde aus friderizianischer Zeit, wurden uns Hühnchen und grüner Salat serviert. Als wir auf die DDR zu sprechen kamen, sage der Hausherr, beispielhaft und im übertragenen Sinne zu verstehen: "In Thüringen ist es jetzt ganz dunkel." Auf Fragen erläuterte ich dem Ehepaar meinen Begriff von der Nischengesellschaft in der DDR. Axel Springer meinte zu seiner Frau, es müsste doch hübsch sein, wenn er mit ihr "in einer kleinen Nische bei Potsdam" leben würde. Genau betrachtet tat er es bereits. Wir wechselten dann zu anderen Themen.

Mit dieser Folge endet die Serie "Das war die BRD", die Mitte Oktober als Buch im Goldmann-Verlag erscheinen wird. Die Serie ist auch weiterhihin im Internet nachzulesen unter www. sueddeutsche.de/kultur.

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