BRD Serie (27):Der Puma-Schuh

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Christopher Keil

(SZ vom 06.07.2001) - Als wir im Sommer 1969 nach Norderney zogen, erkannte ich sehr schnell, dass die Menschen auf dieser Nordseeinsel eine eigene Sprache hatten. Sie nannten es Platt, und weil ich kein Platt sprach, wollten mich die Kinder aus meiner Klasse verprügeln. Nach Schulschluss bekam ich zehn Meter Vorsprung und musste rennen. Sie haben mich natürlich nie geschnappt, bis der Kräftigste die sechste Stunde schwänzte und sich vor unserer Haustür postierte. Meine Mutter befreite mich.

Puma-Schuhe kennen keine Grenzen. (Foto: Logo: Puma)

Sich von der Mutter befreien zu lassen, ist das Schlimmste, was einem Siebenjährigen passieren kann. Es reichte damals in Norderney schon, kein Platt zu sprechen, um als Außenseiter zu gelten. Ich war aber auch noch katholisch und rannte in Puma-Schuhen. Die meisten Kinder, mit denen ich mich zum Fußball traf, hatten Schuhe mit drei Streifen.

Der geschwungene Körper eines Pumas

Ich war der einzige mit einem. Formstreifen nannte ihn der Verkäufer. Für mich sah der Formstreifen aus wie der geschwungene Körper eines Pumas, und wie ein Puma zu rennen, fand ich, war etwas Besonderes. Außergewöhnlich war jedenfalls, dass Puma-Schuhe von Anfang an breitere Sohlen hatten als alle Konkurrenzmodelle, und weil ich an beiden Füßen Überbeine hatte, bewahrte mich der Puma-Schuh ganz nebenbei vor größeren orthopädischen Schäden.

Dass ich katholisch war, hatte mit meiner Mutter zu tun und ihrer Liebe zu Gott. Dass ich wie ein Puma rannte, hatte mit Borussia Mönchengladbach zu tun und meiner Liebe zu einer Fußballmannschaft, die in Puma-Schuhen kickte, aber Fohlenelf hieß.

Auf Norderney waren die Kinder entweder für Bayern München oder den Hamburger SV, und ihre Sympathie hatte durchsichtige Gründe. Die Bayern gewannen häufig, und der HSV war der erfolgreiche norddeutsche Klub. Ich bin der einzige gewesen, der ein Trikot von Borussia Mönchengladbach trug. Und auch das, fand ich, war etwas Besonderes. Denn das Mönchengladbacher Trikot war weiß und deshalb sofort von allen anderen zu unterscheiden.

Niemand trug damals weiß, uns Messdiener, die deutsche Fußball- Nationalelf und den Schlagersänger Bata Illic einmal ausgenommen. Ein weißes Trikot ist wie eine Marke gewesen, obwohl es in den Siebzigern fast noch keine Marken gab. Stattdessen hatte man Farbfernsehen, deutsche Tugenden, und der Quizmaster Dietmar Schönherr konnte die Nachbarin schockieren, weil er in seiner Show "Wünsch dir was" ein 17-jähriges Mädchen in durchsichtiger Bluse auftreten ließ. (Das Mädchen ist trotzdem Ärztin geworden. )

Ich zog hässliche Nikkis an, grellbunte Hemden oder verwaschene Batik-Shirts. Niemand hatte die Wahl zwischen Prada und Paul Smith. Keiner war cool oder in oder out. Nur die Farben unserer Fußballteams trennten uns, und der Vereinsschriftzug war das einzige Logo, auf das wir fixiert waren.

Deshalb hatte es natürlich auch Konsequenzen, sich für Borussia Mönchengladbach zu entscheiden. Der kleine Provinzklub führte das Establishment der Bundesliga vor, und das Establishment trug drei Streifen, trug Adidas. Eigentlich trug Deutschland Adidas. Mit Borussia Mönchengladbach war man also in der Opposition, und der Puma-Schuh war der zarte materialistische Ausdruck eines alternativen Lebensgefühls.

Adidas hatte damals noch überwiegend deutsche Vorbilder. Die Kickstiefel hießen ganz linientreu Uwe Seeler oder Franz Beckenbauer. Der Puma- Style dagegen wurde von weltläufigen Männern wie Pelé oder Johan Cruyff bestimmt. Mit Pelé verband sich nicht weniger als Genialität und globale Exotik, mit Cruyff handfestes Rebellentum.

Der Holländer hatte sich vor dem WM-Finale 1974 gegen die Deutschen einen der drei Trikotstreifen abgerissen, weil er geschworen hatte, nicht im Adidas-Hemd aufzulaufen. Cruyff war in grandioser Form, was nichts an seiner Niederlage änderte. Deutschland wurde Weltmeister, Cruyff hat das nie verziehen. Mir wurde klar: In besonderen Schuhen zu verlieren ist besonders schlimm.

Mein Held aber hieß Günter Netzer. Netzer hatte alles, wovon ich zu träumen wagte: lange Haare, eine Frau, die in durchsichtigen Blusen ausging, einen Ferrari und eine Diskothek. Über Netzer wurde gesagt, dass er Raum und Gegner beherrsche.

Mit Netzer entwickelte Borussia Mönchengladbach eine verschwenderische Angriffslust. Wenn er am Ball war, gab es keine Grenzen. Seine Pässe drangen in die dunklen Ecken des Spielfeldes vor und erreichten ferne Posten an den Seitenlinien. Netzer und Borussia Mönchengladbach erfanden das Flügelspiel. Der Platz, haben Radioreporter entflammt behauptet, sei plötzlich breiter geworden. Was natürlich Unfug war und auch wieder nicht.

Links nach Europa

Im Grunde war Borussia Mönchengladbach der sportliche Beitrag zur ersten sozialliberalen Regierung der erwachenden Bundesrepublik Deutschland. Wie Netzer inszenierte Willy Brandt seine Vorstöße über Außen. Die CDU hatte in den Nachkriegsjahren nur die korrekte Mitte oder die rechte Flanke mit den westlichen Bündnispartnern im Auge. Der erste SPD-Kanzler wagte sich auch über links nach vorne.

Sein Kniefall in Warschau vor dem Ghetto- Denkmal, die Anstrengungen zur Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses, der Moskauer Vertrag über Gewaltverzicht und sein Treffen mit DDR-Ministerpräsident Stoph sind Fundamente deutscher Ostpolitik geworden. Europa wurde breiter.

Obwohl die SPD 1972 ein Misstrauensvotum abwehren konnte und anschließend die Wahl gewann, erschien mir Willy Brandt stets als herausragende Persönlichkeit einer Minderheit.

Das mag an meiner Mutter gelegen haben. Sie mochte Brandt vermutlich so wenig wie durchsichtige Blusen. Auch Brandt schien das Establishment zu ärgern wie Borussia Mönchengladbach. Wenn meine Mutter mit ihren Freunden über den roten Bundeskanzler diskutierte, war stets von Alkohol die Rede und vielen Frauen, die als Weiber bezeichnet wurden.

Willy Brandt, davon war ich überzeugt, hätte Puma-Schuhe getragen.

Sein Auf- und Abstieg waren dann auf schicksalhafte Weise mit dem von Günter Netzer verbunden. Netzer verließ Borussia Mönchengladbach 1973 und bekam sehr viel Geld dafür, dass er sich Real Madrid anschloss.

Er hatte eine gute Saison in Spanien und danach viele Verletzungen. Die Puma-Schuhe hießen bald Klaus Allofs, Wilfried Hannes und Lothar Matthäus, und vom Klang der Namen hätte man den wirtschaftlichen Niedergang des Unternehmens ableiten können.

Willy Brandt wurde 1974 vom DDR-Agenten Günther Guillaume gestoppt. Die SPD blieb noch bis 1982 an der Macht und kehrte erst 16 Jahre später an die Spitze zurück. Borussia Mönchengladbach wurde 1977 zum letzten Mal deutscher Meister und Puma am Ende der Achtziger von der Modeoffensive amerikanischer Unternehmen bezwungen.

Das hätte, als wir am Norderneyer Nordstrand im Windschatten der alten Wetterwarte den Uefa-Cup-Sieg der Borussia über Twente Enschede (5:1!) nachspielten, nicht einmal die Adidas-Fraktion für möglich gehalten.Ich glaube, unsere Enschede-Elf hatte durch entsetzlichen Körpereinsatz Vorteile, obwohl ich meinen King S.P.A. aus leichtem Känguruleder, mit Nylonschraubstollen, extra hohem Schaft für besseren Halt und zusätzlichem Sportabsatz vorführte. Dass ich auf dem korrekten Endergebnis bestand und als Jupp Henyckes drei der fünf Mönchengladbacher Tore schießen durfte, hat mir die Gruppe, die Enschede sein musste, übel genommen.

Doch das war mir egal. Ich hatte gelernt, dass ein Puma Widerstände brechen musste.

Nächste Folge: Gerhard Matzig über die Carrera-Bahn.

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