BRD-Serie (32):Das Trimm-Dich-Männchen

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(SZ vom 17.08.2001) - Sieger sehen anders aus - und Heilsbringer sowieso. Der Typ hatte ein Froschmaul, einen akkuraten Seitenscheitel, merkwürdig tief liegende Ohren und auch sonst wenig jesusmäßiges. Mit seinem emporgereckten linken Daumen wirkte er wie ein Tramper, der noch viele Stunden und Tage lang an der Autobahnauffahrt stehen würde: Wer lädt sich schon freiwillig einen Anhalter ins Auto, der nicht viel mehr als ein Unterhemd und kurze Hosen am Leib trägt und sein Ohrfeigengesicht zu einem debilen Dauergrinsen verzieht? Und doch verströmte der Däumling zugleich eine Aura von Erlösung: Sah man ihm nicht gleich auf den ersten Blick den Besessenen, von bizarren Weltverbesserungsgedanken Beseelten an, den Missionar auf kuriosen Abwegen?

Trimmy sollte die Deutschen "auf Trab bringen". (Foto: Foto: Martin Fengel/Herburg Weiland)

Trimmy, so der Name des kleinen Mannes, wollte zwar nicht in fremden Autos mitgenommen werden, aber er hatte tatsächlich eine Mission. Mochten ihn auch viele für einen kurzbeinigen Trottel halten, als er im Frühjahr 1970 in Berlin (logisch: Westberlin) der bundesdeutschen Öffentlichkeit vorgestellt wurde, so war sein Anliegen doch bitterernst: Trimmy sollte die Deutschen "auf Trab bringen", wie man sich damals ausdrückte.

Der Deutsche Sportbund hatte sich Trimmy zusammen mit einer Werbeagentur ausgedacht. Es wurde eine Leitfigur aus ihm, die dem erst später zu Ehren gekommenen Wort "Bürgerbewegung" frühen Sinn einhauchte. Der niedliche Bursche appellierte mit schlichten Slogans wie "Turn mal wieder", "Tanz mal wieder" oder "Kick mal wieder" an das Gesundheitsbewusstsein der zu Wohlstand und Wohlstandsbäuchen gekommenen Deutschen - und schaffte es in wenigen Jahren, zu einer kleinen Gottheit erkoren zu werden. Ihr zuliebe richtete man überall in Bundesdeutschland Freilufthaine ein: Auf den so genannten Trimm-Dich-Pfaden huldigten Abertausende von Jüngern beiderlei Geschlechts dem grienenden Watschenmännchen.

Mens sana in Campari Soda

Natürlich war die Zeit reif für die Ankunft eines Erlösers, als Trimmy in das Leben der Bundesdeutschen trat. Jahrzehntelang hatten die Bürger ihre Kräfte in den Wiederaufbau des Landes und seiner Wirtschaft investiert; hatten erst Trümmer geschleppt und sie zu neuen Häusern und Fabriken aufeinander gehäuft; hatten dann, als ihre Arbeit Ertrag zeigte, viel gegessen und getrunken und sich dazu das Zigarrenrauchen angewöhnt.

Sportbegeisterung war den Wirtschaftswunderdeutschen dabei keineswegs fremd. Sie hatten Fritz Walter und seinen Jungs zugejubelt, als sie 1954 Fußballweltmeister wurden; hatten 1960 während der Olympischen Spiele in Rom den Läufer Armin Hary als Sprintkönig gefeiert und den Aufstieg des amerikanischen Boxers Cassius Clay (der sich 1964 in Muhammad Ali umbenannte) bestaunt - aber all das taten sie, während sie selbst bei Bier und Wein vor den Hörfunk- und Fernsehgeräten saßen, nicht weil sie daran dachten, selber den Sporthelden nachzueifern.

Warum auch? Hatten nicht die Nationalsozialisten die Idee der körperlichen Ertüchtigung der Massen gründlich zuschanden gebrüllt? Was anderes als Kriegsvorbereitung waren die Kraft-durch-Freude-Meiereien, die Turn- und Gymnastik-Großspektakel der Nazis gewesen? Welchen anderen Zweck hatten die Sportübungen der Jungmänner und Jungmädels verfolgt als den, nicht bloß ihre Körper, sondern auch ihre Seelen "hart wie Kruppstahl" zu machen, um dann Millionen von Menschen (und sich selber gleich mit) ins Verderben zu stürzen?

Von einem gestählten "Volkskörper" und ähnlich martialischem Gewese wollte man also verständlicherweise Anfang der Siebziger nichts mehr wissen; stattdessen ging es dem "Breitensport", den die Trimm-Dich-Bewegung des Deutschen Sportbunds fördern sollte, angeblich nur darum, die schlimmen Folgen der bundesdeutschen Fettlebe einzudämmen. Bewegungsmangel - diese Diagnose galt nicht nur für den geistigen Zustand Deutschlands in den Adenauer- und Post-Adenauer-Jahren, sondern noch viel mehr für die körperliche Verfassung der Wirtschaftswunderkinder.

Der Herzinfarkt und andere wohlstandsbedingte gesundheitliche Kalamitäten rafften immer mehr Bürger dahin. Im Jahr 1900 hatten die Deutschen durchschnittlich 62 Stunden pro Woche geschuftet, 1970 waren es noch 43 Stunden - und wozu nutzten sie die gewonnene Freizeit (auch so ein Modewort)? Sie lagen auf der faulen Haut, mampften, tranken und rauchten. Klarer Fall: Eine Art Ruck am BRD-Sessel musste her.

Der Erfolg der Trimm-Dich-durch-Sport-Initiative war - offenbar zur Überraschung selbst der Initiatoren - durchschlagend. "Früher war es den Jungen und Starken, den Talentierten und Wohlhabenden vorbehalten, Sport zu treiben", jubelte der Sportbund 1980 im Band "10 Jahre Trimm-Aktion", durch Trimmy aber seien aber nun auch "die Älteren, die Dickeren, die Frauen, die Leistungsschwachen" körperlich aktiv.

49 Prozent aller Bundesbürger bekannten sich laut einer Emnid-Umfrage als Trimm-Teilnehmer, mithin handle es sich um "die erfolgreichste gemeinnützige Kampagne, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat".

Das hatte zunächst damit zu tun, dass es den Bundesdeutschen gelungen war, erstmals seit Hitlers 1936er Berliner Olympia-Show, in der er vor den Augen der Welt eine scheinbar friedlich triumphierende Sport-Weltmacht Deutschland zum Goldmedaillenappell antreten ließ, wieder Olympische Spiele nach Deutschland zu holen: München 1972, das sollte nicht nur eine Demonstration eines modernen, geläuterten, fröhlichen Deutschlands werden (auch wenn die "heiteren Spiele", so der Münchner Slogan, durch den Terrorangriff palästinensischer Kidnapper dann nicht gar so lustig wurden) es sollte sich auch eine körperlich frische, bewegliche Nation präsentieren.

Es hatte damit zu tun, dass aus den USA die Kunde einer neuen Alltagssport-Begeisterung in die Bundesrepublik gedrungen war. Die "Jogger" fanden bereits in der BRD der siebziger Jahre so viele Nachahmer, dass Kardiologen sich bald über eine bedenkliche Häufung von Todesfällen beim Laufen sorgten. (Hier irrt übrigens Florian Illies in seinem schönen Bestseller "Generation Golf" : Er datiert den "Paradigmenwechsel" durch die Verwandlung des Wortes Dauerlaufen in Joggen im deutschen Sprachgebrauch auf Mitte der achtziger Jahre - in Wahrheit war das Wort schon in den Siebzigern so populär, dass der Spiegel dem Volkssport "Jogging - Spaß am Laufen" 1978 eine Titelgeschichte widmete.)

Noch wichtiger aber für Trimmys Triumphzug durch die BRD war die scheinbar arglose, in Wahrheit aber raffinierte Art, in der er unverhofft Gemeinschaftsgefühl in schwierigen Zeiten stiftete. Der Konsens der Nachkriegsgesellschaft war 1970 fürs erste perdu, Studentenrevolte und Anti- Springer-Protest hatten, wenn schon keinen Klassen-, so doch einen Generationskonflikt offen gelegt, das Zerbrechen der Großen Koalition und die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt bedeuteteten Neuanfang, Polarisierung, Streit.

In dieser trüben Zeit rief Trimmy dazu auf, zu turnen, zu schwimmen und zu laufen - und zwar, so die Herren des Sportbunds, "weil das alles Spaß macht, weil es gesund ist, weil es eine gesellige Sache ist".

Eine gesellige Sache: Im Wald und auf der Heide durften sich nun jede Menge Deutsche ohne Arg und Streiterei zu Volksläufen unter dem poetischen Motto "Trimm-Trab ins Grüne" treffen (die Gründung der Grünen lag noch in weiter Ferne). Dabei war das Laufen, wie Psycho-Fachleute bald herausfanden, gleich noch eine erstklassige Therapie gegen Depressionen. Trimmys Jünger entschieden sich fürs kollektive Davonlaufen aus Zeiten, die, wie man so sagte, zum Davonlaufen waren.

Unter den so genannten Intellektuellen gewann unser kleiner Held schon deshalb keine Freunde: Er war eine Symbolfigur des Eskapismus. Ein Versöhnler, der Widersprüche zudecken wollte, statt sie - womöglich hechelnd in vollem Lauf - "auszudiskutieren" (auch so ein BRD-Modewort).

Gerade die Linken, Progressiven, Aufgeklärten der siebziger Jahre gefielen sich in einer heute schwer verständlichen Sport- und mitunter auch Körperfeindlichkeit; flegelten mit langen Schmierhaaren auf WG-Stühlen; pafften, was das Zeug hielt (aber fingen an, gesundheitshalber Müsli zu löffeln); bekannten sich zwar zur sexuellen Befreiung, sahen aber nackt ziemlich wabbelig und nicht besonders gut aus. Sport galt ihnen als spießig.

Na gut, die Fußball-WM in Deutschland 1974 anzusehen, war noch in Ordnung (und Tip und Tap, die damaligen WM- Maskottchen, waren im Vergleich zu Trimmy auch coole Typen) - aber selber Sport treiben? Den BRD-Intellektuellen galt das als Unterwerfung unter die "Tyrannei des Körpers", und genau mit dieser Floskel geißelten sie in den achtziger Jahren die aufkommende Selbstquälerei im Namen der Fitness. Im Kursbuch etwa wurde noch 1987 die "muskuläre Aufrüstung" der Deutschen höchst skeptisch beschrieben.

Einzelkampf im Breitensport

Seine Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Geselligkeit aber ist es, die den Trimmer der BRD vom nahezu autistischen Fitnesstreibenden unserer Zeit unterscheidet. Wer heute im Studio oder in der Natur seine Muskeln stählt, der kämpft meistens ganz allein. Er möchte fit for fun und für die Karriere sein, möchte den Prozess des Alterns bezwingen und schindet sich für mehr Lebensqualität und besseren Sex.

Er blättert sich durch Hochglanzzeitschriften, die ihm Fitness als ganzheitliche Lehre von richtiger Bewegung, richtiger Ernährung und richtigem Bewusstsein predigen, und er blickt auf straffe Bauchmuskeln, erigierte Brustwarzen und glitzernde, garantiert geruchsfreie Designer-Schweißperlen, die ihm einen besseren, oft in nur wenigen Wochen zu erlangenden Lebensstil verheißen.

Trimmy jedoch hatte nie die Ich-Gesellschaft, sondern immer nur das Wir-Gefühl im Sinn. Deshalb ist er irgendwann in den achtziger Jahren sehr leise abgetreten. Es gab nicht viele, die ihm nachtrauerten.

Relikte des Trimmy-Kults aber finden sich bis heute in vielen deutschen Wäldern. Aus medizinischer Sicht, so wissen wir heute, war der Trimm- Dich-Pfad ein Holzweg. Die meisten der einst auf Schautafeln gelehrten Übungen sind nach neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis nachgerade gesundheitsschädlich: Die gemeine Rumpfbeuge etwa, einst selbst Kindern empfohlen, ist zumindest für Ungeübte eine gefährliche Attacke auf die Lendenwirbelsäule. Der Klimmzug demoliert häufig das Schultergelenk. Sit-ups mit einem Baumstamm unter dem Po, einst eine zentrale Pfad-Turnübung, sind überführt als klassische Bandscheibenkiller, mutwillige Selbstbeschädigung durch Überstreckung der Wirbelsäule.

Trotzdem könnte es sein, dass Trimmy demnächst Auferstehung feiert. Trend-Spürnasen aus der Popbranche haben sich die Rechte an der Figur gesichert. Das lässt fürchten, dass Trimmy bald wie seine Vettern aus dem Land der Schlümpfe mit grausiger Fiepsstimme eine Art Trimmschlumpf-Techno singt. Im besten Fall aber, und Optimismus ist in der schönen, neuen, fitten Berliner Republik schließlich oberste Bürgerpflicht, könnte Trimmy in seinem 31. Lebensjahr noch einmal triumphal die deutschen Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Andererseits: Gucken wir uns den Kerl nochmal genau an. Popstars sehen anders aus.

Zuletzt schrieb Ingo Niermann über Westberlin. Nächste Folge: Michael Althen über Tri Top.

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