BRD-Serie (26):Das Krabbenbrötchen von Gosch

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ECKHART NICKEL

(SZ vom 21.06.2001) - Am Ende angekommen, bleibt nur Übelkeit zurück. Man hat sich so durchgebissen, die rosa Hummersauce ist immer wieder an den Seiten des Brötchens hinabgetropft. Viele der kleinen gepulten Krabben sind noch extra zwischen den Hälften herausgeglitscht und liegen nun, gleich einem durchbrochenen Halbkreis am Boden wie in einem Krankenhaus die Tagesration an wegoperierten Wurmfortsätzen. Wie bei allen widerwillig eingenommenen Mahlzeiten gibt es einen Moment Pause, Stillstand beim Rumoren, bevor es losgeht. Der Ekel aber kommt, so sicher wie das Gewitter an einem schwülen Sommerabend, hier bei Fisch-Gosch in Westerland auf Sylt.

Das Krabbenbrötchen ist das Schlüsselprodukt des Urlaubsversprechens. (Foto: Foto: Martin Fengel / SZ)

"Dick und satt, wie schön ist datt", so stand es stets an einem Holzbrett der Abbruchskneipe "Kliffkieker" in Wenningstedt, ein paar Kilometer nördlich, wo es inzwischen auch einen Gosch im Angesicht des Untergangs gibt. Direkt an dem mit jeder herbstlichen Sturmflut schmaler werdenden Kliff steht die Kneipe, in der auch nordfriesische Gemütlichkeiten angeboten werden wie"Dans op de deel", und liefert ungefragt Sinnsprüche für die Insel. Die Insel. Wer auf so einen Begriff gekommen ist wie auf den Nervköter am Strandkorb des Badenachbarn, verdient allergrößte Verachtung und den Dank aller Kurdirektoren des Eilands. Aber wer da sprach auf die Frage "Wohin im Sommer?" - "Auf die Insel", der signalisierte bundesdeutsches Understatement vom Feinsten. Wohlstand satt hieß das, und satt ist man im Sommer schnell.

Die Wärme lässt noch immer in den rar gesäten Hundstagen des Zollgrenzbezirks eigentlichen Heißhunger erst gar nicht aufkommen. Dafür bewirkt die von Thomas Mann bereits in den zwanziger Jahren so titulierte "Champagnerluft" enormen Appetit. So stand die Suche nach einem kulinarischen Moment des Angekommen-Seins wohl am Anfang des Objekts. Der Wunsch, den Urlaub auch im Gaumen beginnen zu lassen, indem man die feinsten Früchte des örtlichen Meeres verkostet. Da genügten aber die vor List gefischten Krabben nicht allein. Zum Pulen werden sie, so heißt es, der Ökonomie halber nach Afrika verschifft, wo solche Schweinearbeit eben billiger ist als bei den nörgeligen, faulen und überteuerten Saisonkräfte aus den Studentenstädten. Also nimmt die Wuselware einen enormen Kilometeranlauf, bevor sie sich im gierigen Schlund des Bundesbürgers wieder findet.

Der Essende ist gerade angekommen, Urlaubsbeginn, also mild gestimmt, das Wetter passt, und er steht an einem dieser Stehtische aus den Bistro- süchtigen achtziger Jahren. Sein Blick schweift über rotgebrannte Feriengäste, sein Mund hat kein Gesicht. Er beißt, als vom Körper losgelöstes Organ, zu, geht auf und schließt sich wieder. Die Zähne malmen. Die sämige Hummersauce, altrosa wie der Lachs im Bräter nebenan, schmiert sich durch die Zahnzwischenräume. Aus den Krabben mit ihrer leicht festen Konsistenz tritt etwas Wasser aus. Aufgetaut? "Iwo, alles frisch", sagt Alex mit den schwarz gefärbten kurzen Haaren hinter dem Gosch-Tresen. Alex ist eine der mythischen Kräfte hinter der Sylt-Maschine, gut geölt wie alles hier.

Er hat die Saison-Arbeit zum Lebensprinzip erhoben, jobbt im Winter auf den Kanarischen Inseln und im Sommer auf Sylt, seit Jahren, seit es Gosch in Westerland gibt. Er und sein Freund, Siggi, groß, blond und mit Tattoo, nehmen an Nachtleben alles mit, was geht. Den leichten Fischgeruch werden sie freilich auch abends nicht los, nach Schichtende, wenn der kleine Pavillon geputzt ist und die Kasse gemacht. Das stört hier keinen. Die Szene erlaubt, was gefällt, und so auch Fisch. Riecht ja auch irgendwie menschlich. Alex kann die Brötchen nicht mehr sehen. Wie alle aus der Gastronomie hat er neben seinem gesunden Widerwillen gegen die Ware seiner Wahl auch eine chronische Magenschleimhautentzündung entwickelt. Im Sommer steigt der Maaloxan-Bedarf der Insel-Apotheken ins Imposante. Kaum einer in der Branche lutscht die Tüten nicht, morgens, wenn die Abendkasse nicht stimmt, mittags, wenn der Neue am Grill die Scampi nicht genügend durchbrät und so für die Kundschaft zum Risikofaktor Fischvergiftung wird, oder abends, wenn die Gläserklauquote wieder unerwartete Rekorde feiert.

Das Krabbenbrötchen, das Alex neben den Scampi in Knoblauchsoße am häufigsten über den Tresen reicht, ist das Schlüsselprodukt des Urlaubsversprechens. In ihm wurde der Traum des Spießbürgers vom Luxus auf "Der Insel" erreichbare Wirklichkeit, und das für lau. Das vermeintlich kostbare Butterfahrtsmedaillon der Geschmacklosigkeit für den Magen. Es ist alles, was zu Hause nicht ist. Roher Fisch in irgendwie sexueller Form. Sauce von Hummer, dem gefährlich aussehenden Kriegsspielzeug der Betuchten. Nur, dass man nicht noch lernen muss, wie das Ding auseinanderzunehmen ist, sondern dessen Essenz als Verheißung wartet. Wie viel Hummeranteil in der fettäugigen Mayocreme tatsächlich für den Namen gerade stehen muss, dieses Geheimnis bleibt wohl nur den Auserwählten auf der anderen Seite des Tresens vorbehalten.

Der Name Sylt, von vielen als Verkürzung von "Seeland" gedeutet, könnte denn auch von dem altnordischen "svelta" hergeleitet sein, was soviel heißt wie qualvoll sterben. Erinnern wir uns: Sylt als Long Island der Deutschen verdankte seinen Ruf vor allem dem so genannten Jet-Set der sechziger Jahre um Gunther Sachs, der just am legendären Kampener Nacktstrand der Buhne 16 all das erfand, was in den neunziger Jahren die Partys des wiedervereinigten Deutschland ausmachen sollte: Luxus, Sex, Drogen und Rock'n'Roll. Damals war Gosch allenfalls eine mäßig laufende Fischbude in List am äußersten Nordrand, dem Ende Deutschlands. Dort, wo es noch mehr weht als überall auf Sylt. Wo die Butterfahrten zu den Seehundbänken aufbrachen. Wo sonst nur die Bundeswehr ihre Marineversorgungsschule stationiert hatte und die Soldaten ihren Frust in der Diskothek "Insel" ertränkten.

Eine der ältesten Insulanerprofessionen ist und bleibt aber die Piraterie. An die Stelle der Seefahrer, die mit ihren Schiffen im Sturm an den knapp 30 Kilometern Westküste strandeten und von der listigen Urbevölkerung ausgeraubt wurden, rückten im zwanzigsten Jahrhundert die Urlauber. Der Raub geschah nun subtiler. Selbst Göring trieb sein Unwesen als weißgewandeter Inselmarschall. Und der Sturm, zu dem die Wohlhabenden nach dem Zweiten Weltkrieg langsam, aber sicher auf die elegant ausgeformte Ansammlung an Sand, Dünen und kleinen Wäldern bliesen, schwemmte neben Jet-Set und gehobenem Bürgertum auch Künstler und Schriftsteller an Land. Ihnen gefiel vor allem der mondartige Formenkanon, die Nähe zu Elementarlandschaften wie der Wüste und die bizarre Ursprünglichkeit des Erlebens. Peter Suhrkamp soll für die erste Proust-Übersetzung der "Recherche" sein Kampener Landhaus gepfändet haben, was wirkliche Literaturbegeisterung beweist. Hatte doch die Schönheit Sylts unter den Urlaubslandschaften der Bundesrepublik nichts Ebenbürtiges. Bis das Krabbenbrötchen kam.

Inzwischen muss man nicht mehr nach Sylt fahren, um es zu essen. Man bekommt es auch am Hamburger Hauptbahnhof und auf dem KuDamm in Berlin. Und Gosch gibt es bald sicher nicht nur dort, sondern auch in jeder zweithässlichsten Fußgängerzone Großdeutschlands. Ein Beweis für die Demokratie, gewiss. Dann können alle in den Kanon einstimmen, der als verschlungener Spruch an den Lackmarkisen von Gosch wohlgelaunt posaunt: In guden wie in slechten Dagen, Fisch is gut für'n Magen. Guten Appetit? Nein danke, mir ist schon schlecht.

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