Boulevard und Jugendkriminalität:Das gesunde Volksempfinden

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"Richter Gnädig" und der "Koma-Schläger": Was der Bild in München die beiden U-Bahn-Schläger, ist dem Express in Köln der türkische Jugendliche Erdinc S. Die Boulevardisierung der Gerichtsprozesse.

Dirk Graalmann

Die Bild-Zeitung hatte am Dienstag eine knallige Zeile: "U-Bahn-Schläger: Jetzt jammern sie vor Gericht", titelte Bild auf Seite eins. Der Prozess-Auftakt gegen die beiden ausländischen Jugendlichen, die in München einen Rentner schwer misshandelt hatten, ist für ein Boulevard-Medium ein journalistischer Glücksfall. Das Thema Jugendkriminalität taugt zur Emotionalisierung der Massen, kaum ein Thema ist aber so diffizil.

Allzu oft klaffen am Ende die juristische Bewertung einer solchen Tat und das, was die Balkenpresse für gesundes Volksempfinden hält, auseinander. Auch das Urteil des Kölner Schöffengerichts im Fall des 17-jährigen Erdinc S., der einen Mann geschlagen hatte und dafür nicht mit einer Haftstrafe belegt wurde, erging Ende Mai "im Namen des Volkes".

Doch das Volk, sofern es denn das Kölner Boulevardblatt Express nutzt, senkte anschließend empört den Daumen. Der Richterspruch sei ein "viel zu lasches Urteil", fanden 88 Prozent der 22.511 Menschen, die auf der Internet-Seite des Express über das Urteil abstimmten.

Dabei war ihnen der Fall in seinen Einzelheiten kaum bekannt. Der Prozess gegen Erdinc S. fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der junge Türke hatte den 43-jährigen Waldemar W. in einem Streit heftig geschlagen, das Opfer fiel nach Ansicht des Gerichts durch den Schlag unglücklich - und erlitt so schwere Verletzungen, dass es für mehrere Wochen ins Koma fiel und langfristig behindert bleiben wird. Erdinc S., der erst kurz vor der Tat wegen eines anderen Delikts vor Gericht stand, wurde im Prozess vom Jugendrichter Hans-Werner Riehe mit einem Schuldspruch belegt. Darin wurde ihm Auflagen erteilt, allerdings wegen einer günstigen Sozialprognose keine Haftstrafe verhängt.

Das Sprachrohr

"Koma-Schläger straffrei: Milder Richter ließ ihn laufen", titelte der Express am Tag danach. Seither tobt in Köln eine heftige Auseinandersetzung über das Urteil. In den Redaktionen gehen Hunderte von Leserbriefe ein, auch die ersten Bundestagsabgeordneten haben sich tadelnd zu Wort gemeldet.

Der Express ist das Sprachrohr des Volkes. Die Boulevardzeitung mit einer Auflage von mehr als 200.000 Exemplaren hatte sich des Falls angenommen. Erdinc S. läuft nur noch unter dem Pseudonym "Koma-Schläger", der Jurist Riehe, mit vollem Namen und Foto abgebildet, wird seit dem Urteil nur noch als "Richter Gnädig" tituliert. Ist das einfach boulevardesk, oder ist es mehr?

Der Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltvereins zumindest sah sich genötigt, eine öffentliche Erklärung abzugeben. Darin echauffierten sich die Strafverteidiger über die "Pranger-Berichterstattung des Express" und rügten einen "Kampagnenjournalismus". Zuletzt gingen auch acht Kölner Jugendrichter, unter ihnen der gescholtene Riehe, mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit. Es entstehe der Eindruck, "dass durch die Art der Berichterstattung populistischen Vorgaben Genüge getan werden soll". Zugleich sprechen sie von einer "Hetzkampagne" gegen den Jugendrichter.

Den Vorwurf der Kampagne weist Express-Chefredakteur Rudolf Kreitz scharf zurück. "Den Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen", so Kreitz, der nach eigener Aussage bisher vergeblich versucht hat, mit seinen Kritikern in Kontakt zu treten. Vielmehr habe der Express "so berichtet wie alle anderen Zeitungen hier auch, nur größer und auf Seite 1". Das Praktische: Neben Bild erscheinen in Köln Express, der Kölner Stadt-Anzeiger und die Rundschau; alle drei Blätter gehören zum DuMont-Verlag.

Der Fall Erdinc S. ist bei allen das Thema. Der Kölner Stadt-Anzeiger veranstaltete am Montagabend dazu eine Podiumsdiskussion. Es waren Experten da, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht hatten ihre Sprecher entsandt, der Saal war voll, die Stimmung aufgeheizt. Es war nichts anderes zu erwarten. Der Titel der Diskussion lautete: "Verständnis für die jungen Schläger?"

© SZ vom 25.06.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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