Beziehung zwischen USA und Israel:"Es sind nicht die Juden, die die Politik bestimmen"

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Die Debatte um das Buch "Die Israel Lobby" erhitzt die amerikanischen Gemüter. Der Moralphilosoph Michael Walzer sagt, die Macht der israelischen Lobbyverbände werde überschätzt.

Justus v. Daniels

SZ: Soeben wurde das Buch "Die Israel Lobby" der Politologen John Mearsheimer und Stephen Walt veröffentlicht, in der ein 'maßgeblicher' und 'unvorteilhafter Einfluss' einer Lobby für den Staat Israel auf die amerikanische Außenpolitik nachzuweisen versucht wird. Ist das für Sie versteckter Antisemitismus?

Michael Walzer wurde unter anderem durch seine Abhandlungen über "gerechte" und "ungerechte" Kriege bekannt. (Foto: Foto: Institute for Advanced Study, Princeton)

Walzer: In diesem Fall bin ich tatsächlich ziemlich misstrauisch, denn ich habe selbst viel Erfahrung mit Lobbys in Washington. Ich denke, dass diese Untersuchung die Macht der israelischen Lobbyverbände weit überschätzt. Es wird über den schädlichen Einfluss der Juden in Washington berichtet, was doch sehr an den 'schädlichen Einfluss' der Juden in London oder Berlin oder Warschau erinnert. Wir haben diese Geschichten schon mal gehört. Diese Wissenschaftler behaupten, es gebe eine große Israel-Lobby, aber es gibt keine. Es gibt viele jüdische Lobbys in Washington. Ich selbst bin in einer aktiv, die sich für Frieden in Israel einsetzt. Während der Clinton-Regierung haben wir die Regierung sehr unterstützt, während die konservative jüdische Lobby AIPAC sehr gegen Clinton war. Jetzt sind die Konservativen an der Reihe und freuen sich über die Bush-Regierung, während wir gegen die jetzige Regierung sind. Aber es sind nicht die Juden, die die Politik bestimmen.

SZ: In den USA wurden kürzlich laut der "New York Times" Juden als Antisemiten bezeichnet, die sich zu stark über Israel aufregen. Wo würden Sie die Grenze zwischen gerechtfertigter Kritik und Antisemitismus ziehen?

Walzer: Zunächst ist die israelische Regierung wie jede andere Regierung kritisierbar. Einige Regierungen sind es mehr als andere. In Israel selbst gibt es natürlich auch starke Opposition. Daran ist nichts falsch. Ich würde eine Grenze der Kritik ziehen, wenn die Legitimität oder die Existenz des Staates infrage gestellt wird. Es gibt immer mal wieder diese zwanghafte Kritik bei manchen Linken, die gar kein Problem haben, nach China zu fahren, die aber nie im Leben nach Israel fahren würden, weil Israel aus ihrer Sicht ein inhumaner Staat ist. Es gibt eine Art von Kritik, bei der man wirklich aufpassen muss, auch wenn man mit dem Begriff "Antisemitismus" sehr vorsichtig umgehen sollte.

SZ: Sie sind als Moralphilosoph bekannt, schreiben über gerechte und pluralistische Gesellschaftskonzepte und appellieren an die Linke, Konzepte für gerechte und ungerechte Kriege zu entwickeln. Sie haben kürzlich auch gesagt, dass im Nahen Osten derzeit vier Kriege zur selben Zeit stattfinden. Was meinen Sie damit?

Walzer: Wie so oft in der Politik finden verschiedene Prozesse gleichzeitig statt, und es ist sinnvoll, sie zu entflechten. Zum einen gibt es einen palästinensischen Krieg, oder genereller einen islamischen Krieg, dessen Ziel es ist, Israel zu delegitimieren. Dann gibt es den palästinensischen Kampf um Freiheit, der ein Kampf für einen eigenen Staat ist. Ich bezeichne den ersten als einen ungerechten Krieg und den zweiten als einen gerechten. Aber diese beiden sind in einer Weise verbunden, dass es manchmal schwierig ist, sie zu unterscheiden. Und dann gibt es den israelischen Krieg, um Israel gegen den ersten Krieg zu verteidigen. Und es gibt einen weiteren israelischen Krieg, um die Ausdehnung Israels voranzutreiben. Ich halte den ersten für einen gerechten und den zweiten für einen ungerechten Krieg. Und auch hier werden beide Kriege gleichzeitig geführt. Viele betonen, dass sie an dem einen oder dem anderen Krieg beteiligt sind, so wie israelische Soldaten sagen, dass sie in den Golanhöhen kämpfen, aber nicht in der Westbank kämpfen würden.

SZ: In welche Kategorie würden Sie den Libanon-Krieg einordnen?

Walzer: Ich glaube, der Libanon-Krieg war gerecht, aber vielleicht ist es von israelischer Seite kein besonders intelligenter Krieg gewesen. Die Hisbollah hat die deutliche Absicht, den Staat Israel zu vernichten, und sie hat ganz offensichtlich Verbindungen zu palästinensischen Gruppen, die ein ähnliches Ziel verfolgen. Ja, ich glaube, der Abschuss von Raketen über die Grenze rechtfertigt eine militärische Antwort.

SZ: Aber die Israelis hatten in hohem Maße zivile Stadtteile angegriffen.

Walzer: Die Frage nach der Verantwortlichkeit für zivile Opfer ist eine schwierige Frage, wenn Angriffe von Wohngebieten ausgehen. Unter Gerechtigkeitstheoretikern wird auch das Benutzen der Zivilbevölkerung als Schutzschild diskutiert, und in diesem Fall ist das ja ganz wörtlich zu nehmen, wenn von zivilen Stadtteilen aus geschossen wird. Solange Soldaten versuchen, sich gegen diejenigen zu wehren, die auf sie schießen, sind sie nicht für zivile Opfer verantwortlich. Die primäre Verantwortung liegt in dem Fall bei den Gruppen, die Raketen aus Wohnhäusern abschießen, und das gilt auch für die Hisbollah.

SZ: Seit einigen Jahren wenden Sie sich mit starkem Engagement der politischen Tradition des Judentums zu. Was hat das Interesse an der Beschäftigung mit der jüdischen Tradition hervorgerufen?

Walzer: Es war eine Wende, aber keine Wende in meinen Interessen. Ich bin seit Jahren sehr in amerikanisch-jüdischer und auch zionistischer Politik engagiert. Und die Erfahrung als Jude hat mein Denken in meinen Arbeiten immer geprägt. Die Bedeutung des Pluralismus in meiner Arbeit ist sicherlich eine Reflexion des jüdischen Lebens in der Diaspora. Und die Erfahrung, die mich dazu führte, ein Buch über gerechte und ungerechte Kriege zu schreiben, stammt von 1967, als ich Reden gegen den Vietnamkrieg gehalten habe, aber gleichzeitig den israelischen Präventivkrieg gegen Ägypten verteidigt habe. Ich versuche, für beide Lagen schlüssige Argumente zu finden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Säkularisierung in der Welt ins Wanken gerät.

SZ: Sie schreiben, dass es eine neue Perspektive für das Judentum geben müsse, die aus der Tradition gewonnen werden muss. Was, glauben Sie, sollte sich ändern?

Walzer: Die Absicht, über die Traditionen des Judentums zu schreiben, war, das Monopol der orthodoxen Juden über die Tradition des Judentums aufzubrechen. Dahinter steht der Anspruch, dass die Tradition jedem gehört, der sich für sie interessiert. Wir wollen aus dem Ghetto ausbrechen, in dem sich die Deutung der jüdischen Tradition bisher befand. Das ist einerseits eine politische Ambition, da die orthodoxen Juden in Israel eine Art Autorität über diese Tradition für sich beanspruchen. Andererseits ist es für die Existenz des israelischen Staates wichtig, dass die Juden ihre politische Tradition des Exils reflektieren, aus denen bestimmte politische Haltungen entstanden sind, die mehr oder weniger zeitgemäß für die Staatsangehörigkeit oder einer Theorie des Staates sind.

SZ: Wenn Sie von der politischen Tradition sprechen, trennen Sie dann den jüdischen Glauben von der jüdischen Nation?

Walzer: Es ist ein Merkmal der jüdischen Geschichte, dass diese beiden miteinander verbunden sind. Die Juden sind ein Volk, und sie sind eine Religionsgemeinschaft. Die Geschichte der beiden deckt sich, was in der Geschichte von Nationen nicht oft vorkommt. Das wirft Probleme in Bezug auf jüdische Staatlichkeit und einen jüdischen Staat selbst auf. Ich bin davon überzeugt, dass Israel Ausdruck einer jüdischen Nation sein sollte und nicht der einer nationalen Religion. Und das war auch die Überzeugung der Staatsgründer. Aber wegen der Verflechtung der beiden ist das eine schwierige Aufgabe, und sie ist noch nicht am Ende, vielleicht ist sie sogar bedroht. Ich glaube, es gibt eine Krise der kulturellen Reproduktion der säkularen Linken. Die säkulare Linke reproduziert generell weder ihre Kultur noch ihre Werte, sei es ein europäischer Sozialismus oder ein amerikanischer Liberalismus. Eines der Probleme ist ihre fehlende kulturelle Verwurzelung.

SZ: Europäische Politik ist aber doch im Grunde sozialdemokratisch, außerdem formieren sich linke Bewegungen heute auf globaler Ebene. Inwiefern spielt für Sie die Religion da eine Rolle?

Walzer: Es scheint doch, als wäre jede globale Bewegung eine spontane Kreation und ein oberflächliches Bündnis. Es gibt kaum Verbindungen zur Vergangenheit, zu linken Traditionen, in denen es traditionellerweise fundamentale Texte und Rituale gibt; der Marxismus ist ein gutes Beispiel. Es gab fundamentale Texte und auserkorene Interpreten. Es hat nicht funktioniert, aber das macht ihn noch nicht zu einer schlechten Sache. Die Rückkehr der Religion in so vielen Teilen der Welt ist etwas, über das sich linke Bewegungen Sorgen machen müssen. Die Säkularisierungsthese gerät ins Wanken, Europa ist da noch eine Ausnahme, aber es wird vielleicht genauso überrascht werden wie säkulare Systeme in Indien oder Israel überrascht wurden.

SZ: Ist das linke Projekt begraben?

Walzer: Es ist nicht tot, aber in Gefahr. Wir müssen uns kritisch und nicht auf Knien mit der Religion auseinandersetzen, gegen die früher gekämpft wurde und die heute auch noch kritisch überprüft werden muss. Ich versuche das. Die Zionisten haben das Ziel gehabt, das Exil zu verneinen, sie verneinten damit allerdings das Judentum als ganzes. Die Zionisten haben die Angst und die Passivität des Judentums gehasst. Aber was sie geschaffen haben, war zu dünn, um mehr als einer Generation Halt zu geben.

SZ: Heutzutage ist Israel ein Staat, Juden sind in modernen Gesellschaften rechtlich gleich gestellt, es gibt die Situation des Exils nicht mehr. Was macht die jüdische Tradition für die heutige politische Situation der Juden relevant?

Walzer: Heutzutage ist die Erfahrung des Exils grundsätzlich vorüber. Es gibt Israel und die volle Staatsbürgerschaft in Demokratien. Aber in beiden Erfahrungen lebt eine Mentalität weiter, die durch das Exil geprägt wurde. Ben Gurion war das sehr bewusst. Exilgemeinden leben immer in Furcht vor den Autoritäten. Wenn man kein Bürger ist, verhält man sich opportunistisch. Das ist natürlich heute keine geeignete Haltung. Wir müssen verstehen, warum die Leugnung des Exils durch die Zionisten legitimiert war, und warum sie auf der anderen Seite die Reproduktion der eigenen Kultur verdrängt hat. Was ist an der Exilsituation wertvoll, immerhin ist das Bestehen eines Volkes ohne Land und ohne Machtkompetenzen über 2000 Jahre eine beeindruckende Leistung.

SZ: Können Sie sich einen multi-ethnischen Staat Israel vorstellen, in dem jüdische und arabische Bürger gleichberechtigt leben?

Walzer: Wenn es Frieden gäbe, denke ich, gäbe es auch eine Bürgerrechtsbewegung, eine israelisch-arabische Bewegung mit vielen jüdischen Israelis, die teilnehmen würden, so wie viele Weiße an der schwarzen Bewegung in den USA teilgenommen haben. Der Konflikt macht so etwas allerdings nur schwer möglich. Und ich glaube nicht, dass diese Zwei-Klassen-Staatsbürgerschaft überwunden werden kann, solange es keinen Frieden gibt. Es ist kompliziert und umso schwieriger, wenn man die Koexistenz von Nation und Religion im Judentum betrachtet. Die öffentliche Kultur in Israel ist den Arabern fremd. Die grundsätzliche Kultur ist jüdisch, so wie die Sprache hebräisch ist. Ich glaube nicht, dass das falsch ist. Es ist nur ein weiter Weg zu einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft. In weiter Ferne finden wir uns vielleicht auf dem Weg in eine globale, kosmopolitische Kultur wieder. Aber bis dahin glaube ich nicht, dass kulturelle Differenzen illegitim sind.

SZ: Die Tradition des Judentums ist alles andere als homogen. Es ist eine Sammlung von Debatten, Kommentaren und juristischen Stellungnahmen. Man könnte fast behaupten, sie sei antitheoretisch. Hat Sie dieses pluralistische Denken in ihrer philosophischen Arbeit beeinflusst?

Walzer: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Die politische Tradition des Judentums ist keine philosophische Tradition. Es gab zwar Philosophen, die christliche, arabische oder analytische Philosophie imitiert haben. Aber die Tradition ist eher eine anti-philosophische Tradition, eine Arbeit unendlicher Kommentare, ja sogar die rechtlichen Fragen haben die Form von Kommentaren und Gegenkommentaren, nicht von Entscheidungen. Es ist eine Tradition der Interpretation. Aber mein eigener Stil war auch immer diskursiv. Ich habe immer, auch wenn es mir gar nicht bewusst war, die jüdische Denkweise verteidigt und habe in meinen Büchern über Krieg oder Gerechtigkeit meine Argumente immer über historische Beispiele entwickelt. Ich habe eher wie ein Jurist oder eben im jüdischen Stil und nicht wie ein Philosoph gearbeitet.

SZ: Gibt es einen gerechten Krieg in der jüdischen Tradition?

Walzer: Den gibt es nicht. Es gibt optionale und befohlene Kriege. Verbotene Kriege gibt es nicht. Obwohl einige zeitgenössische Philosophen behaupten, dass es implizit gerechte Kriege gäbe, sehe ich die jüdische Tradition in dieser Hinsicht kritisch. Aber der Grund für diese Ignoranz in Fragen des Krieges ist das Fehlen jüdischer Armeen und Soldaten in der Geschichte. Ich glaube, dass Fragen wie diese nicht allein aus der Tradition gelöst werden können. Ich denke, man könnte die katholische Theologie zu Hilfe nehmen, so wie frühere Autoren andere Traditionen zu Rate gezogen haben.

SZ: Die Schließung des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel am Berg Sinai wird beispielsweise als der erste Gesellschaftsvertrag beschrieben. Ist es für die heutige politische Wissenschaft oder die Rechtstheorie möglich, aus dieser Tradition Lehren zu ziehen?

Walzer: Vielleicht, aber ich bin da eher vorsichtig. In den USA glauben manche Juden, ihr Volk hätte den Gesellschaftsvertrag erfunden, hätte den Grundstein für den Sozialstaat gelegt. Es geht mir nicht um solche Fragen, aber man kann immer etwas aus den Traditionen lernen, in diesem Fall von einer Gemeinschaft, die keine Exekutivgewalt besaß und die gegenseitige Verantwortlichkeiten ohne eine staatliche Macht geregelt hat.

SZ: Aber dahinter steht doch immer ein Glaube. Muss man in einer religiösen Tradition nicht auch die göttliche Dimension mit beachten?

Walzer: Ja, aber das gilt ebenso für das Christentum. Als Tawney, ein britischer Sozialist, über die Ursprünge des Kapitalismus schrieb, schrieb er unter anderem über die Praxis des gerechten Preises. Das war eine christliche Doktrin, die nicht aus der ökonomischen Praxis kam. Aber man kann das Argument des gerechten Preises auf etliche Beschränkungen des Kapitalismus anwenden und die Religion dabei ausblenden. Dasselbe gilt für das Judentum. Ein Großteil der Moral hat religiöse Wurzeln. Und das Projekt, die moralischen Argumente zu säkularisieren, ist immer noch nicht zu Ende. Das bedeutet, dass man auch im Judentum ursprünglich religiöse Konzepte in eine säkulare Sprache übersetzen kann.

© SZ vom 7.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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