Bernward Vesper:Morgen früh, wenn Gott will

Bernward Vesper war der Sohn eines von Hitler geehrten Nazi-Dichters und er war der Verlobte von Gudrun Ensslin. Außerdem war er Autor eines psychedelischen Roman-Fragments, das jetzt wieder aufgelegt wurde.

ALEX RÜHLE

Allein schon wegen des zeitgeschichtlichen Sexappeals würde heutzutage wahrscheinlich jeder Verlag anbeißen und das Ganze als autobiographisches Textspektakel verkaufen: Sohn eines von Hitler geehrten NS-Dichters, dessen völkisch-nationales Sprachgeschepper er Anfang der Sechziger sogar noch selbst herausgibt.

Verlobt mit Gudrun Ensslin, die ihm von Andreas Baader ausgespannt wird; vorher zeugen die beiden noch einen Sohn und begründen mit der "Edition Voltaire" einen theoretischen Zulieferbetrieb für die Straßenrevolte.

Wühlt sich dann zwei Jahre lang in ein riesiges autobiographisches Textlabyrinth hinein, in dem er zugrunde geht. "Die Reise" ist ein Trip ohne Wiederkehr, im März 1971 kommt Bernward Vesper in die Psychiatrie, wo er kurz darauf an einer Überdosis Barbiturate stirbt.

Die Verlage aber lehnten ab. Sechs Jahre lang. Erst Anfang 1977, nach einer irrwitzigen Lektorats-Odyssee, erschien das Buch bei Zweitausendeins in kleiner Auflage. Es wurde Frühling, es wurde Sommer.

Dann kam der Deutsche Herbst, und plötzlich liefen Schockwellen durch die Republik: Die Frankfurter Rundschau pries das Buch als "wichtigste literarische Neuerscheinung des Jahres", Peter Laemmle sprach vom "Nachlass einer Generation" und Peter Weiss bezeichnet "Die Reise" in seinen Notizbüchern als "den intellektuellen Höhepunkt der Bewegung des Jahres 1968".

Vielleicht hätte Bernward Vesper selbst diese raunende Begeisterung gar nicht gewundert. Die Briefe, die er während der Niederschrift an seinen Verleger Jörg Schröder schickte, zeugen von einem irritierend sicheren Wissen darum, dass "Die Reise" ein wichtiges Buch werden würde, ja manchmal klingt es fast nach Sportpalast: "Wir werden ihnen eine Melodie vorsingen, die ihnen hundert Jahre in den Ohren dröhnen soll".

Eine Melodie? "Die Reise" ist ein kakophoner Themencluster, Selbstanalyse, Drogenprotokoll und immer neue Suche nach der "in den Brunnen gefallenen Kindheit". Vesper selbst nannte sein Schreibprojekt im ersten Brief an den Märzverlag zunächst "Trip". Aber während des Schreibens entstand dann etwas ganz Anderes.

Natürlich, es gibt den Trip, die drogenberauschte Reise von Jugoslawien über München nach Tübingen. LSD wird in diesen Passagen verbrämt als novalishaftes Heilmittel zur Befreiung von sich selbst. Nur wenn man neben sich steht oder über sich schwebt, kann man die eigene Konditionierung und Prägung sehen: "Ja, ich wusste genau, dass ich Hitler war, bis zum Gürtel", phantasiert er einmal, da ist er gerade in München, "dass ich da nicht herauskommen würde, dass es ein Kampf auf Leben und Tod ist...".

Hinter dem LSD-Trip dräut und drängt der Versuch, möglichst klar und erinnerungsscharf die eigene Kindheit und Jugend zu erzählen. Diese Passagen, immer eingeführt als "Einfacher Bericht", die sich eingangs schüchtern dazwischenschalten, schieben sich immer mächtiger in den Vordergrund.

Wegen dieses kunstvoll einfachen Berichts, der so detailgenau und präzise den Geruch von Kartoffeläckern und das protestantisch schlechte Gewissen beim Onanieren, die niedersächsische Mooridylle und die Insichgekrümmtheit eines Jugendlichen beschreibt, wurde "Die Reise" als "Nachlass einer Generation" gelesen, einer Generation, die im Schatten der Nachkriegszeit und dem diffusen Gefühl einer abgestorbenen Leere groß und klein gehalten wurde: "Wir sind aufgewachsen im Kalten Krieg, die Kinder von Murks und Coca-Cola".

Das schwarze Loch, um das der Text kreist, ist Vespers eigener Vater, Will Vesper, der Nazi-Barde, der auf dem niedersächsischen Gut Triangel herrschte wie ein Landjunker und noch Ende der fünfziger Jahre seinen Kindern Vorträge darüber hielt, warum "die Katzen die Juden unter den Tieren" waren: "Und Gott war mein Vater und mein Vater war Gott, morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt, mein Vater hieß Will."

Den gesamten Text über arbeitet sich Vesper rastlos an der Übermacht dieses Vaters ab: "mein vater (noch einmal, und zum letzten mal, und ganz von neuem)" heißt es einmal so zäh wie hartnäckig, als versuche da einer immer neu, einen rutschigen Hang zu erklimmen.

Soeben erschien ein Büchlein, in dem Vespers früherer Freund Henner Voss erzählt, was für ein abscheulicher Mensch dieser Vesper doch gewesen sei, laut und plump, verkorkst und peinlich.

Die Moral des etwas eitlen Bändchens ist die oft gehörte Leier vom nahtlosen Übergang aus der faschistoid indoktrinierten Jugend ins Umfeld der RAF. Weit interessanter war Gerd Koenens kluges Buch "Vesper Ensslin Baader" von 2003, in dem dieser "Die Reise" als eine Art literarische Parallelaktion zum Terror der RAF interpretierte:

"In einem Akt totaler Überspannung hatte Vesper versucht, alle Erlösungs- und Größenphantasien dieser Jahre in sich aufzunehmen und zu artikulieren."

Wie gut, dass nun Vespers Buch selbst wieder vorliegt, mit einer Editionschronologie versehen von seinem Verleger und fernen Freund Jörg Schröder. Schröder erinnert sich, dass die Verleger Anfang der Siebziger auch deshalb davor zurückschreckten, "Die Reise" zu veröffentlichen, weil der Text Fragment geblieben war. Aber gerade das Zerrüttete, fragmentarisch Widersprüchliche macht seine Stärke aus.

Wer die Geduld hat, sich durch diese Textbaustelle aus fulminanten Drogenprotokollen und tastender Selbstvergewisserung über die eigene Biographie, aus Skizzen der abgestorbenen Leere der fünfziger Jahre und dem revolutionären Parolengerede, bei dessen Lektüre man sich vorkommt, als müsse man eine Tüte Mehl essen - wer also die Geduld hat, sich durch all das hindurchzulesen, der sieht, dass Vesper die Kritik, die Koenen und Voss vorbringen, längst in viel schärferer Form selbst formuliert hat; dass er der imaginierten Wärme kämpfender Kollektive genauso misstraute wie seiner eigenen widersprüchlichen Vita.

"Ich bin ein kaputter Typ" heißt es mehrfach in den nachgelassenen Notizen. Vesper erscheint als Frauenbenutzer und Egomane, die landjunkerhafte Arroganz, mit der er all seine Zeitgenossen als "vegetables" in einen Topf wirft, klingt wie ein unheimliches Echo des väterlichen Herrenmenschengeredes.

Aber er hat eben die Größe, sich ungeschönt aufzuschreiben, aufzureiben. Vesper arbeitet an der Erlösung durch das Wort, er will das Großreinemachen, mit protestantischer Gründlichkeit versucht er sich in literarischem Selbstexorzismus: "So wie es ist, die Wahrheit sagen, vermischt mit den Lügen, die stehen bleiben, die sich verstecken, die nicht mit dem langen Haken (des Masochismus?) aus ihren Höhlen hervorgeholt werden können."Als "Kampf auf Leben und Tod" bezeichnete er sein Projekt während des zitierten Hitler-Trips im Münchner Hofgarten. Zwei Jahre nach der Mitschrift dieses Trips kommt Vesper auf einer Reise wieder durch München und erleidet dort einen schweren schizoiden Schub. Zwei Monate später ist er tot.

Seinen Sohn Felix erwähnt Vesper zunächst nur en passant, wie ein Haustier, das halt irgendwie da ist. Aber er widmet sein Buch diesem Sohn und wendet sich immer neu an ihn, ja Felix, die "kleine Sonne", wird zum utopischen Bezugspunkt des riesigen Schreibprojekts: "Lieber Felix", heißt es in einem Absatz über die Qualen der Schule, "bis auf die letzten beiden Jahre habe ich jedes Mal bescheinigt bekommen, dass ich das Klassenziel nicht erreichen werde. Ich wusste, mit welcher Post der Brief bei uns zu Hause ankam. Ich fing ihn ab und legte ihn in eine Schublade, um ihn, wenn ich mal eins hätte, meinem Kind zu geben, wenn es mal einen kriegte.

Ich habe ihn noch. Für Dich. Dein Veschper-Papa."

Vespers Sohn, der Dramatiker und Dramaturg Felix Ensslin sagte kürzlich am Rande der von ihm kuratierten RAF-Ausstellung, jeder könne beweisen, dass er mehr zu sagen hat als das, was sich aus seiner Biographie ergibt. "Man hat eine Chance, dieser Zwickmühle zu entkommen. Aber es ist viel Arbeit." Bernward Vesper ist an dieser Arbeit zugrunde gegangen.

BERNWARD VESPER: Die Reise. Herausgegeben und mit einer Editionschronologie von Jörg Schröder. 720 Seiten. Area-Verlag, Erftstadt 2005. 12,95 Euro.

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