Auftakt der Filmfestspiele in Cannes:Startrampe aus Sperrholz

Lesezeit: 4 min

Kill Gilles? Produzent Harvey Weinstein gibt den Rumsfeld der Croisette. Die anderen kommen erst gar nicht.

TOBIAS KNIEBE

Wahrscheinlich ist man selber schuld, wenn man nicht warten kann, einen Tag vor Beginn des Festivals. Wahrscheinlich folgt alles einem höheren Plan - und die Franzosen haben, obwohl es nicht so aussieht, die Lage völlig im Griff. Merkwürdig ist es trotzdem, wenn man durch Cannes flaniert, um die Stadt von Neuem in Besitz zu nehmen, am Ende vor dem Festivalpalast anlangt - und sich auf einmal fremd und verloren fühlt. Der Rote Teppich fehlt. Die berühmte Treppe ist noch unbedeckt, sie wirkt nackt und bloß und erstaunlich unglamourös, schlimmer: Man kann erkennen, dass sie zum Teil aus billigem Sperrholz gezimmert ist. Alles Trick und Kulisse beim Film, das weiß man ja und kommt sich doch vor, als habe man das Festival mit herabgelassenen Hosen erwischt. Der Mythos inwendig ausgehöhlt, die Fassade hastig zusammengenagelt, der Firnis des Glamours nicht dicker als ein Stück Filz ... Kann das ein schlechtes Omen sein?

SZ v. 15.05.2003 (Foto: N/A)

Es kann. Was spätestens klar wird, wenn man die erste halbe Stunde des Eröffnungsfilms hinter sich hat. Gérard Krawczyks "Fanfan la Tulipe" sollte wohl die Erinnerung an eine große Tradition wach halten: An einen galanten und furchtlosen Nationalhelden, der falschen Autoritäten und überlegenen Gegnern stets die Stirn bietet; an den säbelrasselnden französischen Abenteuerfilm; an Gérard Philipe und Gina Lollobrigida und ihren Sieg im Cannes des Jahres 1952. Gleichzeitig wollte man etwas Modernes für ein großes und auch junges Publikum, und irgendwo auf dem Weg, den vor allem Luc Besson als Autor und Produzent zu verantworten hat, ist etwas grauenhaft schiefgelaufen. Louis XV. als übel chargierender Fettwanst, seine Generäle als überkandideltes Tuntenkabarett, mistgabelschwingende Bauern, deren einzige Ausdrucksform hysterisches Gebrüll ist, und mittendrin die Hauptdarsteller Vincent Perez und Penélope Cruz, denen man nicht eine Sekunde glaubt, was sie da spielen: "Fanfan la Tulipe" lässt die letzten beiden "Asterix"-Filme wie intelligentes Entertainment aussehen - und wird ganz sicher eines dieser urfranzösischen Phänomene, das im eigenen Land für glückliche Schenkelklopfer sorgt, im Rest der Welt jedoch für wütende Ratlosigkeit.

Ist Gilles Jacob, der Präsident und Patriarch des Festivals, dem man immer noch die großen Entscheidungen anlastet, einer Art Altersdemenz verfallen? Jedenfalls scheut er sich nicht, dem katastrophalen Eröffnungsfilm noch einen Kurzfilm namens "Les Marches" voranzustellen, für den er selbst als Regisseur verantwortlich zeichnet: Wild zusammengeschnippelte Szenen aus der Geschichte des Festivals, die leider weder schöne Erinnerungen noch Nostalgie beschwören, sondern im Grunde nur seine katastrophale Inkompetenz als Filmemacher. Letztes Jahr wurde bereits der erste Teil dieser Serie ausgebuht, aber der Alte ist offenbar nicht mehr zu stoppen. Was auch wiederum völlig egal wäre, würde es nicht Befürchtungen für das ganze Festival wecken. Hat die politische Großwetterlage in dem Sinn auf Cannes übergegriffen, dass der französische Eigensinn auch hier alle Entscheidungen diktiert? Harvey Weinstein jedenfalls, der Miramax-Chef, steter Lieferant von Palmenanwärtern und ohne Zweifel der wichtigste Amerikaner an der Croisette, geht inzwischen offen auf Konfrontationskurs. "Mein Verhältnis zu Gilles Jacob", erklärt er in einem Variety-Interview, "gleicht exakt den französisch- amerikanischen Beziehungen."

Es stimmt also doch, obwohl die Franzosen es eifrig leugnen: Im Augenblick herrscht Eiszeit. "Venedig und Berlin haben Cannes schon viel Wind aus den Segeln genommen", sagt Weinstein und geht sogar so weit, die "derzeitige Administration" für das Fernbleiben früherer Palmengewinner verantwortlich zu machen. Quentin Tarantinos "Kill Bill" galt lange als absolut sicherer Kandidat für den diesjährigen Wettbewerb - jetzt fehlt er, angeblich ist er nicht fertig geworden. Auch Jane Campion und die

Coen-Brüder seien nicht rechtzeitig aus dem Schneideraum gekommen, heißt es immer wieder - aber Weinstein, der es wissen muss, suggeriert eine andere Wahrheit. "Sie fehlen einfach, weil sie nicht fertig werden wollten", erklärt er. Das sind harte Worte, und sie bedeuten nichts weniger als das Ende einer langen Partnerschaft, die Cannes für Filme wie "Pulp Fiction", "Das Piano" und "Das Leben ist schön" zu einer Art Startrampe gemacht hat. Im Moment ist Warner Brothers das einzige Studio, das offenbar gute Beziehungen zu Gilles Jacob unterhält - deshalb die Werbeplattform für "Matrix Reloaded" (außer Konkurrenz) und die Wettbewerbsteilnahme für Clint Eastwoods "Mystic River". Gus Van Sants "Elephant" wird vom Fernsehsender HBO ins Rennen geschickt, Vincent Gallo hat seinen "Brown Bunny" gleich völlig selbst produziert - und das war's dann auch schon mit den Amerikanern.

Wenn man den schlechtesten Eröffnungsfilm seit Menschengedenken hinter sich hat, gewinnen diese Fakten noch einmal andere Bedeutung - und plötzlich entdeckt man überall Anzeichen des Verfalls. Hat der absurde Plastikrasen, der das Dach des Markt-Pavillons bedeckt, schon immer so schrecklich gestunken? Ist es auch früher so gewesen, dass viele Palmen am Straßenrand nur für die Dauer des Festivals aufgestellt wurden, von einem professionellen Palmenverleih? Und gab es schon immer dieses Bauarbeiter-Team, das die Zebrastreifen schnell noch mal weiß übertüncht hat? Man erinnert sich nicht. Die Sonne scheint, kein Wölkchen ist am Himmel - und eigentlich hat man nicht das geringste Recht, schlechte Laune zu verbreiten. Aber irgendwie fürchten wir doch, dass dieses Festival auf eine Konfrontation hinausläuft - einen Showdown wie vor dem Uno-Sicherheitsrat, bei dem niemand neutral bleiben kann. Wer will zerbröselnde französische Großmannssucht - und nimmt selbst einen "Fanfan la Tulipe" in Kauf, um den Amis mal wieder den Finger zu zeigen? Und wer ist für Harvey Weinstein, den neuen Rumsfeld von Cannes, der auch die Vermarktung von Filmkunst als Schlacht begreift und unverhohlen mit Strafaktionen droht? Wie immer die Sache ausgeht, ein Motto steht jetzt schon fest: Kein Blut für Goldene Palmen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: