Art Garfunkel im Interview:Bach meets BMW

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Herrn Garfunkels Gespür für Töne: Die eine Hälfte des Musik-Duos Simon and Garfunkel erkennt in Bäumen Noten und verwandelt sie in Musik. Im Interview erweist sich der Bummel-Student, Bach-Liebhaber und BWM-Freak als Universal-Künstler.

Eckhart Nickel

Herr Garfunkel, hat Sie heute schon ein Geräusch unangenehm berührt?

"Ich sehe ein Schloss": Art Garfunkel im Jahr 1993. (Foto: Foto: AP)

Nicht wirklich, warten Sie mal. Vorhin stand ich auf dem Bahnsteig hier auf dem Hauptbahnhof und hörte einen dieser ultramodernen Schnellzüge anfahren.

Wie klang das?

Ein leises Seufzen. Ein Zischen und Brummen, aber in einer sehr vertrauten Tonlage. Ich höre immer Musik, wenn ich Geräusche höre.

Was für Musik?

Musik, die ich liebe. Der Spitzenreiter ist für mich Bach. Jimi Hendrix war gut, okay, aber J.S. Bach ist die Nummer eins. Diese gewebten Strukturen!

Man meint, diese Musik zu sehen, wenn man sie hört, oder?

Ja, ich sehe ein Schloss, das gerade fertiggestellt wurde. Ein großartiges Schloss. Das bis in die Wolken reicht.

Was war das erste Stück Musik, das Sie heute Morgen gehört haben?

Hmm, das war: meine eigene CD. Ich lief hier durch den Hauptbahnhof, um meinen Körper in Gang zu bringen. Wenn Sie bis ans Ende des Bahnsteigs laufen, da gibt es einen wunderschönen Abschnitt, da ist man ganz allein.

Haben Sie mitgesungen?

Selbstverständlich. Man kann seine Lieder nicht gut genug kennenlernen, Silbe um Silbe.

Hören Sie die auf dem iPod?

Nein, ich habe hier so einen altmodischen CD-Player. Funktioniert ausgezeichnet.

Was ist Ihre erste Erinnerung?

Schwierig . . . also hier kommt schon mal fast die Erste: Ich bin vier Jahre alt, wir fahren in die Berge, drei Stunden nördlich von New York City. Der Geruch der frischen Luft ist phantastisch und, wie soll ich sagen? Stereoscopic! Am zweiten oder dritten Tag stehe ich besonders früh auf und laufe zu den Schobern, wo die Pferde stehen. Den Geruch des Pferdelebens, die Farm, die atmende Erde - ja, das war für mich pures Glück.

Ein Geruch. Welches Bild gehört dazu?

Dieser unwahrscheinlich hohe Himmel, den ich als kleiner Großstadtjunge gar nicht kannte. Und dann das kastanienfarbene riesige Pferd dazu, groß wie eine Häuserschlucht. Ein Morgen auf einer Farm. Der Morgen überhaupt ist das Schönste, er ist so voller Hoffnung.

Ist der Morgen ein Versprechen?

Jeder Morgen. Eine klare Ansage: Mach was draus. Ich ging in diesen Raum hier, um mich mit Ihnen zu unterhalten und dachte nur: Jetzt kommt ganz sicher das beste Interview, das ich je gegeben habe. Also, warum nicht, oder?

Die Hoffnung teile ich gerne.

Was hindert uns daran, die Gegenwart zu etwas Besserem zu machen als alles, was je zu ihr geführt hat? Sind wir nicht genau deswegen älter geworden, um die Welt endlich mal perfekt zu machen, genau hier und jetzt und überhaupt?

Mit dem Alter bekommt man doch immer mehr den Eindruck, das Leben gestaltet sich in der Tonart, die man bereits als kleines Kind im Ohr hat. Oder?

Oh, interessant. Wie ein . . .

Wie ein Lied.

Genau!

Was ist das erste Stück Musik, an das Sie sich erinnern?

Der Anfang ist eine delikate Angelegenheit. Unser Bewusstsein beginnt eher schwammig, bevor dann die Klarheit einsetzt an einem bestimmten Tag. Warten Sie, ich versuche es mal . . . hier: Caruso! Als er seinen letzten großen Auftritt hatte, verliebte ich mich in seine Stimme, seine Musik.

Was sagt eine Stimme über den Menschen dahinter aus?

Wer kann tief ein- und ausatmen, wer kann es nicht? Wer ist gehetzt und leer, und wer kann sich selbst akzeptieren und ist auch noch entspannt dabei? Das, ich bin mir sicher, sagt uns alles.

Und die Tonlagen?

Tiefe Töne verraten uns, dass ihr Träger in der privilegierten Lage ist, sich richtig zurücklehnen zu können. Wer wirklich glücklich ist, bei dem geht's gleich abwärts, ins Wohlgefühl. Hochtöner sind grundsätzlich nervöse Charaktere. Sie sind exaltiert, überaufmerksam. Ich nenne solche Leute gerne Seismographen der Effekte.

Was für Effekte?

Die reagieren auf alles. Leute laufen an ihnen vorbei, ein Mobiltelefon klingelt - egal was passiert, sie zucken ständig zusammen. Wenn man bei ihnen anruft, hört man auch so Gequetschtes auf ihren Anrufbeantwortern. Da ist so viel Spannung drin, die hört nie auf. Und das Schlimmste daran: Wahrscheinlich bemerken sie es nicht einmal selbst.

Wie ist das bei Ihnen?

Ich ertappe mich manchmal selbst dabei, dass auch ich in einer höheren Stimmlage spreche, aber mit dem Alter akzeptiere ich mich in all meiner oft lächerlichen Komplexität.

Sie wandern in letzter Zeit häufig: Einer Ihrer Pläne ist es, in Etappen den ganzen europäischen Kontinent zu Fuß zu durchqueren. Ist das auch das Alter?

Nein, ich kenne die Straße. Mein Vater war Handlungsreisender, der Männermäntel vertrieben hat. Also machte er sich immer wieder auf den Weg, mit all den Warenproben, und ich begleitete ihn neugierig dabei von Zeit zu Zeit. Ich bin auch durch die Gegend getrampt, als ich jung war. Das war natürlich sicherer als heute. So bin ich durch ganz Amerika gefahren, von Küste zu Küste, und das völlig umsonst. Ich traf viele Leute dabei und spielte Journalist. Ich fragte sie nach ihren Jobs, was sie vom Leben erwarten.

Nach ihrer Geschichte.

Genau. Damals waren die Menschen sehr auskunftfreudig. Also trampte ich auch durch Europa. Aber irgendwann sah ich mich um und merkte: Das macht ja gar keiner mehr außer mir. Also hörte ich wieder auf damit.

Dann kamen andere Reisen.

Gleich vom Geld der ersten Single kam ich zurück nach Europa, kaufte mir ein Motorrad von BMW und fuhr los, einmal über die Alpen und zurück. Ich liebte diese schlanken Maschinen von BMW.

Sie scheinen ein sehr inniges Verhältnis zu Europa zu haben. Wie kommt das?

Europa ist von geradezu pittoresker Schönheit! Es gibt, ich habe gezählt, 25 verschiedene Morgenstimmungen alleine in den Alpen. Jetzt laufe ich erst mal von Irland nach Istanbul, zwei Drittel habe ich schon geschafft und bin jetzt etwas nördlich von Neapel. Und gerade diese letzte Strecke von Rom bis Neapel, die war atemberaubend.

Was genau daran?

Als Musiker liebe ich das sehr langsame Tempo und die Landschaft. Diese Kurven. Ein schöner Hügel ist für mich gleichbedeutend mit einer gelungenen Melodie. Ich sehe Noten in Bäumen. Was für ein Geschenk Gottes Erde ist.

Ist das nur hier so schön? Oder gilt das auch für Amerika?

Als ich einmal den Mississippi überquerte, sah ich in Ferne schon die Ausläufer der Rocky Mountains flimmern. Und ich spürte förmlich den langsamen Anstieg der Erde, ihre beginnende Erosion. Nur wenn Sie langsam laufen, können Sie Kontakt aufnehmen mit der Topographie der Welt. Man nimmt das immer so hin, aber nur dann erfährt man auch die dritte Dimension. Unsere Zivilisation ist ja total überstimuliert.

In Deutschland fangen jetzt alle wieder mit dem Wandern an deswegen.

All die kommerziellen Angebote, das ist doch alles furchtbar. Wir opfern dem Gott des Geldes all unsere Gaben.

Der Schriftsteller Kurt Tucholsky hat mal gesagt, wenn er jetzt stürbe, würde er sagen: Das war alles? Und: Es war ein bisschen laut.

Nun, er hatte recht. Wer über die Lebensqualität sprechen will, muss von akustischer Umweltverschmutzung sprechen. Profit verursacht viel Lärm.

Womit sollte man sich denn sein Leben verdienen?

Ich habe diese zwei Söhne, und versuche, ihnen als gutes Beispiel voranzugehen, als role model, Sie verstehen?

Das da wäre?

Sie sollen sich später mal erinnern, dass es auch anders geht, dass es da einen Vater gab, dem es gegeben war, einfach nur mit Singen Geld zu verdienen. Mit dem Singen von Liedern. Ich bin damit noch mal davongekommen. Dafür haben die Leute Geld bezahlt. Ich habe Rock'n' Roll-Songs gesungen und versuchte, sie so groovy, tanzbar und voller Liebe zu machen, wie es nur ging. Also, ich will es nicht überbewerten. Aber das ist doch mal eine nette Art, aus der Gesellschaft zu fallen, oder?

Singen Sie Ihre Kinder in den Schlaf?

Manchmal. Und ich male dabei Kreise auf ihren Rücken, um sie zu beruhigen.

Was für Lieder singen Sie ihnen vor?

Songs mit schönen Melodien. Wenn es etwas gibt, ohne das ich nicht existieren könnte, dann sind es Melodien. Zum Beispiel diese: (fängt an zu singen) Close your eyes . . . Geben Sie mir eine Sekunde, dann hab ich's . . . (hebt wieder an zu singen) From your head to your toes / you're not much, heaven knows / but you're oh so precious to me / sweet as candy . . .

Mmh, sehr hübsch, Mister Garfunkel.

Wenn mein kleiner Sohn nur eine Idee davon bekommt, was ich ihm mit diesen Worten sagen will, ist alles gewonnen.

Sie haben auch Kunst studiert.

In meinen Jahren als Collegestudent an der Columbia habe ich drei Jahre damit verschwendet, Architektur zu studieren. Dann habe ich mit diesem zerebralen Unsinn aufgehört und erkannt: Ich bin und werde kein Architekt. Dann, so Mitte zwanzig, als ich meinen Bachelor machte, habe ich mich in die Idee des Lernens selbst verliebt. Lernen. Was für ein Konzept. Und ich habe dem Direktor der Universität erklärt, ich will nicht schnell meinen Abschluss machen, sondern so langsam wie möglich.

Sowas gilt hier in Deutschland als pure Leistungsverweigerung.

Ja, ich dachte auch, dass die so reagieren werden, aber der Dean meinte nur ganz trocken: "Ah, Sie sind also von nun an ein Generalist." Und ich begann mit dem Lesen, legte mir eine Bildung zu.

Da sollten die Studiengebührenerheber jetzt mal genau hinhören. Was waren Ihre großen Lehrmeister?

Marcel Breuer, kennen Sie den?

Ja. Wunderbar.

Louis Kahn, ausdrucksstarker Beton. Weniger ist mehr. Keiner ist so clean wie Mies van der Rohe. Keiner ist so kurvig und kreativ wie Le Corbusier. Ich bin extra nach Frankreich geflogen, um seine Kirche in Ronchamp zu sehen.

Apropos Kurve - gibt es ein Instrument, dem Sie den Vorzug geben?

Meine Antwort, ganz schnell, bevor ich weiter nachdenken kann: das Englischhorn.

Ausgerechnet das Englischhorn.

Ja, diese mittlere Tonlage. Und doch hat es einen Bruch und Spitzen. Diese Spitze ist to die for. Wenn man darauf etwas ganz faul und friedlich vor sich hinspielt, macht es etwas mit deinem Herzen.

Es transportiert etwas, weil es so schön die Töne hält.

Ich würde sogar sagen, es knarrt wie eine erhabene alte Tür. Das Englischhorn ist nicht wie die Oboe, sein Cousin, aber es hat eine Tiefe, die unvergleichlich ist.

Liegt Ihnen die japanische Ästhetik mit ihren feinen Brüchen, dem Wabi-Sabi?

Machen die Japaner das? Ich kann eher sagen, was mir nicht liegt. Vor Jahren habe ich mal eine Rubens-Ausstellung gesehen, und dieser lüsterne Pomp, das ist nicht meine Welt. Ich verstehe eher den Rhythmus und den Geist von Jackson Pollock. Er tröpfelt Farbe mit Rhythmus und raison. Dafür habe ich ein Auge.

Und die Gegenwart?

Unsere Ästhetik ist die der Hässlichkeit, des totalen Lärms. Wer Hässliches produziert, hat Erfolg. Schauen Sie sich eine Levis Jeans an, eine klare Linie, gut gemacht. Ansonsten ist heute alles billig und kommt aus China. Wir haben die Fähigkeit verloren, das Schöne zu sehen und zu erkennen. Wir umarmen eine industrielle Ästhetik des Hässlichen.

Gibt es einen Mangel an Sanftheit?

Gewiss, ich habe es mir schon lange zur Hauptaufgabe gemacht, zu versuchen, doch noch ein schöner Mann zu sein. Schöne Zeilen zu singen und ein schöner Mann dabei zu sein. Die Stimme zu stärken am Ende von Bridge Over Troubled Water und dabei der Furcht ins Auge zu sehen, denn es ist Showtime, Sein oder Nichtsein, das sind so die Sachen. Das braucht Nerven.

Hat Schönheit eine Moral?

Nein. Sie braucht auch keine. Sie ist eine Moral in sich selbst.

Wie kann man Schönheit lehren?

Das braucht es nicht, denn die Schönheit ist bereits in uns. Das Spiel lautet viel eher: Es ist alles schon da, also verliere es nicht! Höre auf die innere Stimme.

Die da sagt?

Es ist zwar sehr sophisticated, das Sanfte zu mögen, aber Kinder haben es gar nicht gerne sanft. Sie mögen es rau. Man muss sie lassen, denn sie werden es finden.

Reicht es, auf Schönheit hinzuweisen?

Vielleicht. Es reicht schon, den Kindern zu zeigen, wie man selbst von etwas überzeugt ist, dann kommen sie schon drauf. Zeig ihnen den Spaß, den man daran hat, den Appetit darauf. Man muss ihnen nichts sagen oder tun. Nur führen sollte man sie, hinführen. Die folgen schon von selbst. Zeig ihnen das Gute, und schon haben sie eine Richtung, weil sie dir über die Schulter schauen.

Gibt es eine angeborene Sehnsucht nach dem Schönen?

Nehmen Sie "Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten" von Robert M. Pirsig. Er macht eine Motorradtour mit seinem acht Jahre alten Sohn, und während der ganzen Reise ist er der Erzähler und der Sohn der Zuhörer. Und er erzählt ihm die lange Geschichte der großen Ideen der westlichen Zivilisation. Darwin, Freud, alle wesentlichen Akkorde menschlichen Denkens. Pirsig gibt aber zu verstehen, dass Intellektualität nichts nützt, wenn man bei einer Panne sein Motorrad nicht reparieren kann.

Was ist besser, lesen oder reparieren?

Lesen ist was für schüchterne Leute.

Was meinen Sie damit?

Wer nur liest, wird zum sozialen Feigling. Schönheit ist immer: draußen.

Art Garfunkel, 65, bildete eine Hälfte des legendären Folkrock-Duos "Simon and Garfunkel". Nach der (inzwischen mehrfach revidierten) Auflösung des Duos im Jahre 1970 verfolgte er vor allem seine Solokarriere, trat als Schauspieler (u.a. in dem Film "Catch 22") auf, schrieb Prosagedichte, Filmmusik und veröffentlichte zahlreiche Platten. Gerade erschien sein neues Album "Some Enchanted Evening" (Warner), auf dem er klassische Songs aus dem Amerika des 20.Jahrhunderts neu interpretiert. Mit Liedern aus diesem Album, aber auch mit eigenen Klassikern wie "Bridge Over Troubled Water", "Mrs. Robinson" oder "Bright Eyes" ist Garfunkel auch in Deutschland auf Tour: am 26.März in Berlin, am 27.3. in Dresden, am 29.März in Mainz, am 31.3. in Kempten und am 3.April in Hamburg.

Mit seiner zweiten Frau, der Musikerin Kim Cermak, lebt Art Garfunkel in New York. 2005 wurde er zum zweiten Mal Vater.

(SZ vom 17.3.2007)

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