Actionserie "Alias - Die Agentin":Erhöhte Dosis

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Atemberaubend, wovon in einer Dreiviertelstunde erzählt werden kann: Die dritte Staffel von "Alias" zeigt, warum einige TV-Serien besseres Kino bieten als die meisten Kinofilme.

Milan Pavlovic

Es ist in der jüngeren Vergangenheit oft darüber spekuliert worden, warum das Kino immer härter um seine Besucher kämpfen muss, und es sind viele Gründe dafür aufgeführt worden: die mäßigen bis schlechten Filme und die daraus folgende steigende Zahl der Enttäuschungen, die die Eintrittspreise plötzlich unverschämt hoch erscheinen lassen - selbst wenn sie im Vergleich zu Theater, Oper oder Konzerten gar nicht so unmäßig sind. Es war viel von iPods, Computerspielen und immer neuen Freizeitbeschäftigungen die Rede. Und das immer kleiner werdende Fenster zwischen Kino- und DVD-Auswertung tut sein Übriges: Wer geht schon mit einer fünfköpfigen Familie ins Kino, wenn er sich nicht sicher ist, was er dort für 40 Euro (exklusive Süßwaren) geboten bekommt, und vor allem, wenn der Film vier Monate später für eine kleine Leihgebühr auf DVD zu haben ist?

Jennifer Garner als Agentin Sydney Bristow in der US-Fernsehserie "Alias". (Foto: Foto: Touchstone)

All diese Argumente stimmen. Eine Überlegung wurde jedoch seltsamerweise nie angestellt: Die Menschen gehen auch deshalb seltener ins Kino, weil das Fernsehen inzwischen oft das bessere Kino liefert. Warum sollte man sich auf einen neuen Kinofilm einlassen, der überdurchschnittlich hohes Frustpotential birgt - oder aber als Remake oder Fortsetzung nur Altbekanntes wiederkäut -, wenn man sich stattdessen mit Charakteren beschäftigen kann, die im besten Fall über Jahre gewachsen sind, im allerbesten Fall mit einem selbst.

Charaktere, die ihr eigenes Verschwinden verkraften

Das Phänomen gab es natürlich schon vorher, in den USA in dieser Dosis wohl erstmals bei M*A*S*H, in Deutschland seit Jahrzehnten beim Tatort, und überall auf der Welt in den Zeiten von Dallas und Denver-Clan. Der Unterschied zu damals liegt heute in der unglaublichen Quantität an qualitativ erstklassigen Serien. Allein Amerika bombardiert uns mit Desperate Housewives, Lost, 24, CSI (die unzähligen, oft ebenfalls sehenswerten Imitate gar nicht eingerechnet), Alias, Nip/Tuck, Monk, The Wire, Without a Trace, Crossing Jordan. Ewige Größen wie die Simpsons und unbekannte Größen wie Deadwood sind noch nicht einmal berücksichtigt. Eine Serie wie Emergency Room hat Schwierigkeiten, da noch mitzuhalten, und so ungerecht das klingt: Ally McBeal und The X-Files stammen aus einem anderen Jahrtausend. Hat da jemand noch Zeit, das Ende von Buffy, Six Feet Under oder Sex and the City zu beklagen?

Woher diese Qualitätsflut kommt? Die Verantwortlichen dieser Serien haben seit den bahnbrechenden Erfolgen der ungehemmten HBO-Serien ( The Sopranos und Sex and the City) endlich begriffen, dass Fernsehen nichts Muffiges sein muss - und dass es kontraproduktiv ist, kleines Kino herstellen zu wollen. Großes Fernsehen ist erstrebenswerter.

Die besten der genannten Serien haben die alten Gesetze des Mediums umgeschrieben. Galt die Länge der Folgen von 40 Minuten früher als Beschränkung, so haben die Verantwortlichen dieses Limit inzwischen als Möglichkeit begriffen: als Chance, mit Erzähltechniken zu experimentieren, die auf Spielfilmlänge gestreckt redundant wirken könnten, so aber enorm effektiv unsere Sehgewohnheiten auf den Kopf stellen. Sie zersplittern die Zeit wie Alias und Lost, jonglieren ihre Geschichten so souverän auf mehreren Ebenen, bis es irgendwann gar nicht mehr auffällt, wie meisterlich Desperate Housewives seine Zuschauer trainiert hat, mühelos vier und mehr Erzählsträngen zu folgen.

Es ist immer wieder atemberaubend, wovon in nicht einmal einer Dreiviertelstunde alles erzählt werden kann. In Nip/Tuck zum Beispiel gibt es Folgen, in denen von Inzest und Erpressung über Demütigungen, Untreue und Bestechung bis hin zu Verstümmelungen alles vorkommen kann - und das sind ja, neben den üblichen romantischen und hoffnungsfrohen Momenten, auf die auch diese Serie nicht verzichtet, nur die abgründigen Seiten. Jedenfalls erschweren solche Serien die Rückkehr zu eitlen, lahmen Filmen: Selbstgefälliges wird ab sofort noch schneller erkannt als vorher. Denn die neuen Serien beweisen: In 40 Minuten kann sehr wohl das Wesentliche einer Geschichte konzentriert erzählt werden - ohne auf lange Sicht das epische Erzählen aus dem Auge zu verlieren.

Das perfekte Beispiel dafür ist immer noch die irre 18. Folge der ersten Staffel von Lost (Verrückte Zahlen), in der die phantastische Vorgeschichte einer Figur aufgefächert wird: Aus dem monatelang unscheinbaren, oft nervenden Fettsack Hurley wird eine schillernde Persönlichkeit, ein Millionär, der nach dem Gewinn mit den Zahlen 4, 8, 15, 16, 23, 42 nur noch Unglück hat und bringt. Diese 40 Minuten sind für sich genommen ein Abenteuer. Aber das Brillante daran ist die Tatsache, dass die Folge sich einreiht als eines von vielen Schlaglichtern, als ein Höhepunkt in einer Reihe, die zusammen etwas Größeres ergibt: sowohl für die Zukunft, als auch für zurückliegende Folgen, die man plötzlich ganz anders sieht.

So ist das mit all den wirklich guten Serien: Sie haben eben nicht bloß eine Episode im Blick. Ihre Spannweite beträgt 22 mal 40 Minuten, und gerade im Fall von Alias wird man das Gefühl nicht los, dass der Schöpfer JJ Abrams sogar eine Rahmenidee für die ersten 66 Folgen im Hinterkopf hatte. Das mag eine idealisierte Lesart sein, vermutlich werden Abrams und seine Episoden-Autoren in wochenlangen Sitzungen immer neue Wendungen ausgetüftelt haben. Aber das ist im Endeffekt egal, denn es gibt diese ersten 2640 Minuten (vor allem die fast dreißig Stunden der zweiten und dritten Staffel), die den Schluss nahelegen: Die neueren Fernsehserien sind die wahren Epen des frühen 21. Jahrhunderts.

Wir mögen in einem Zeitalter der immer kürzeren Wahrnehmungs- und Konzentrationsspannen leben, doch Serien wie Alias machen sich das zunutze: Sie bestätigen mit ihren kurzen, schnellen Episoden (die so verwinkelt sind, dass man sie sich immer wieder ansehen kann) die Theorie - und widerlegen sie im selben Moment, indem sie Bögen spannen, wie sie sonst nur in mächtigen Büchern möglich schienen. (Hierzulande ist diese Art nicht so beliebt, weshalb die dritte Staffel von Alias erst mit dreijähriger Verspätung bei uns läuft.)

Die aufgezählten Serien bringen uns Charaktere näher, die bald so vertraut sind, dass sie selbst ihr eigenes Verschwinden verkraften: In Alias hinterließ die routinierte Hollywood-Schauspielerin Lena Olin in der zweiten Staffel einen dermaßen starken Eindruck, dass sie in der dritten Staffel fortwährend präsent ist, ohne auch nur einmal aufzutauchen (von einer Rückblende abgesehen). Die Erwähnung ihres Rollennamens Irina Derewko genügt, um uns zu fesseln. Wie soll einem Kinofilm etwas Vergleichbares gelingen? Dementsprechend drängeln sich gute Darsteller um Rollen, ob nun Famke Janssen und Vanessa Redgrave in Nip/Tuck oder Faye Dunaway und Djimon Hounsou, Pruitt Taylor Vince, David Cronenberg und Isabella Rossellini in Alias.

Im zweiten Teil: Warum gute Serien wie mathematische Formeln sind.

Ein weiterer, vielleicht der entscheidende Unterschied zu den beliebtesten und oft auch besten TV-Serien der vergangenen Jahrzehnte besteht darin, was neuerdings in den fast 15 Stunden einer Staffel mit den Protagonisten geschieht. In Klassikern wie Mit Schirm, Charme und Melone, Die Zwei, in Magnum oder Raumschiff Enterprise änderte sich so gut wie nichts. Die Helden mochten eine Menge erleben, sie blieben eine verlässliche Größe. Auch dafür wurden sie ja geliebt: Dass sie Konstanten in einer Welt waren, die sich oft dramatisch entwickelte. In Serien wie Alias oder Nip/Tuck aber verändern sich die Verhältnisse und damit die Charaktere fortwährend, sodass am Ende einer Staffel nichts mehr so ist wie zu Beginn. Die Aufgaben und Fragen, denen die Helden sich notgedrungen stellen, führen zu Antworten, die oft so radikal sind, dass einem beim Zusehen der Mund offen steht.

Übermenschliche Lösungen

Es hilft nichts, sich bei diesen Serien - vor allem bei Alias - ständig zu fragen, ob und wie das alles möglich ist: Woher all die Geheiminformationen über die Feinde kommen; woher überhaupt all die Feinde kommen; wie viele Todesviren und/oder technische Horrorszenarien es noch geben kann; warum die Gegner sich manchmal nicht töten, wenn sie die Chance dazu haben (umso besser ist es freilich, wenn die Gnade inhaltlich begründet ist); warum die Feinde nie die gleiche Frequenz wie die CIA haben; warum es bei CIA und FBI immer neue Unterabteilungen und Überwachungsbüros gibt; warum die Schurken so oft in Europa arbeiten; warum die Gegner mitunter im entscheidenden Moment gerne woanders hingucken - damit sollte man sich besser nicht allzu lange aufhalten.

Zumindest die Frage, wie die Charaktere stets so geschwind und problemlos durch die Welt jetten, als liege Schanghai nur ein Esszimmer von Los Angeles entfernt und Los Angeles wiederum nur eine Messerspitze neben Moskau, hat sich seit Bekanntwerden der CIA-Überflüge relativiert. Wahrscheinlich ist alles noch viel schlimmer als in der Serie.

Vor allem Alias nutzt die Umgebung, in der die Serie spielt (diese von Geheimnissen, Doppel- und Triple-Täuschung, von Misstrauen und Verrat bestimmte Welt der Agenten), um konstant alles und jeden in Frage zu stellen - und die Charaktere mit immer neuen, schockierenden Wahrheiten zu konfrontieren. Wobei nie direkt klar ist, ob es sich wirklich um Wahrheiten handelt, weil in dieser schattigen Welt der Vermutungen so gut wie alles auch eine taktische Lüge sein kann. Auch deshalb können es sich die Autoren leisten, die Schraube stets noch eine Windung weiterzudrehen: Überraschungen gehören in diesem Genre unbedingt dazu. Trotz dieser Erwartungshaltung gelingt es immer wieder, uns mit Ideen zu verblüffen, die die Handlung nicht bloß aus einer Sackgasse befreien, sondern sie mit einem Steilpass und dank der großen Improvisationskunst der Heldin vorantreiben, sodass Szenenapplaus angebracht wäre.

Jedenfalls können wir in Alias dabei zusehen, wie die Unschuldsvermutung beerdigt wird: Jeder wird betrogen, jeder lügt jeden an, jeder der good guys sabotiert an einem gewissen Punkt die Ermittlungen der eigenen Abteilung, weil gut und richtig nicht immer das Gleiche ist; jeder muss wenigstens einmal mit dem Feind paktieren oder ihm das Leben retten, um selbst zu überleben oder weiterzukommen. Und unsere Heldin, Sydney Anne Bristow (Jennifer Garner), die glaubte, vom CIA rekrutiert worden zu sein, bevor ihr die bittere Wahrheit klar (gemacht) wurde - dass sie für Landesverräter arbeitet, die sich als CIA tarnen -, wird zur Besten von allen, weil sie besser lügen und betrügen kann als irgendwer sonst.

Eine schöne Heldin ist das: Sydneys Leben ist auf Täuschung und falschen Hoffnungen aufgebaut. Ihre totgeglaubte Mutter (Lena Olin) entpuppt sich als russische Doppelspionin, ihr betrogener Vater Jack Bristow (Victor Garber) ist ein igeliger CIA-Kollege, der seiner geliebten Tochter oft den entscheidenden Rest der Wahrheit verschweigt. Ihr erster Chef, der total skrupellose Sloane (Ron Rifkin), lässt Sydneys ersten Freund töten, den zweiten foltern und macht ihr auch danach das Leben immer wieder zur Hölle. Und Sydneys große Liebe, der CIA-Agent Vaughn (Michael Vartan), ist zunächst lange unerreichbar, dann - nach dem vielleicht besten Drehbuch-Twist der Film- und Fernsehgeschichte am Ende der zweiten Staffel - vergeben, und das Glück, das mitunter durchschimmert, ist viel zu brüchig, um verlässlich zu sein.

Das, was Sydney und die Alias-Figuren machen, mag größer erscheinen als das Leben, aber auf ihre Essenz reduziert, sind es etwas kompliziertere Familiengeschichten, in denen sich jeder leicht wiederfinden kann. Das ist keine Enttäuschung, eher überkommt einen diese Erkenntnis wie eine Offenbarung: So ziemlich alle großen Serien erzählen Familiengeschichten, und im Grunde ist Alias eine - geschicktere - Variante von Dallas, nur dass es in diesem Fall nicht um Öl und Aktien geht, sondern gleich um die Sicherheit der ganzen Welt.

Das ist zugleich das Geheimnis dafür, warum diese Serie so gut funktioniert: Sie ist, mit all den zwischenmenschlichen Problemen und trotz der mitunter übermenschlichen Lösungen, doch stets im Leben verankert. Alias erzählt von Menschen, die miteinander auskommen und oft sogar zusammenarbeiten müssen, obwohl sie sich nicht trauen können oder wollen. Das kennt jeder aus seinem Alltag, wenn auch wahrscheinlich ohne Saltos, Kanonen und Kampfeinlagen.

Dieses Muster variierten JJ Abrams und sein Autorenteam in erstaunlicher Art, indem sie den Kern des Stabs auf nicht einmal zehn Figuren reduzieren und diese Charaktere in immer neuen Wahrscheinlichkeitsrechnungen aufeinander ansetzen. Sie sind Variablen im Spiel des Lebens, und das Ergebnis muss man sich vorstellen wie in Folge 2:3 (Musik aus dem Eis), wo eine mathematische Formel, richtig zusammengesetzt, Musik ergibt: Alias ist höhere Mathematik, die durch die Addition aller Gleichungen das Herz zum Klingen bringt.

Pro Sieben strahlt vom kommenden Montag an die dritte Staffel von Alias aus (23.10Uhr).

© SZ v. 9./10.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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