Der menschliche Körper in der Kunst:Die Nackten und die Chaoten

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Die bildende Kunst kümmert sich gerade vermehrt um un, die Leibhaftigen. Mit vollem Körpereinsatz stemmt man gerade eine Reihe von Ausstellungen, die sich allerdings nicht selten von ihrem Lieblingsgegenstand aus der Kurve tragen lassen.

HOLGER LIEBS

Wenn die Kunst sich heute dem so genannten wirklichen Leben nähert, dann nicht gerade bedachtsam und zartfühlend. Im Gegenteil: sie agiert mit vollem Körpereinsatz - und mitunter gewalttätig. Am heutigen Freitag eröffnet im Centre d'art contemporain in Brétigny bei Paris die erste Einzelausstellung des Spaniers Santiago Sierra in Frankreich.

Der Körper als Leinwand: In seiner Serie "Dreamland" fotografierte Jeff Burton kalifornische Porno-Darsteller jenseits der nur mechanischen Serienproduktion: "Untitled #133 (Reclining Nude Woman)". (Foto: Foto: Sprengel Museum Hannover)

Er zeigt dort Fotografien einer Aktion, in der Polyurethanschaum und mehrere Prostituierte tragende Rollen spielen. In der Aktion nahmen die Damen, in schwarze Plastikfolie verpackt, eindeutige, nicht jugendfreie Positionen ein. Sierra bezahlte mehrere Männer dafür, dass sie den Schaum in Richtung der weiblichen Genitalien spritzten.

Das ist nicht gerade schön anzusehen; es ist also kein Wunder, dass Sierras drastische Inszenierungen, in denen gesellschaftlich ohnehin Entrechtete nochmals unter verschärften Ausbeutungsbedingungen auftreten, mitunter heftige Kritik nach sich zogen; man warf ihm Zynismus und Gewaltverherrlichung vor.

Wenn sich das, was in den Gossen und Randbezirken der Städte ohnehin jeden Tag geschieht, plötzlich im Rahmen einer Kunstausstellung abspielt - mit eingekauften, freiwillig agierenden Darstellern, wohlgemerkt -, dann erhitzen sich fast zwangsläufig die Gemüter.

Zunächst einmal geht es Sierra vor allen Dingen darum, die Mechanismen alltäglicher Diskriminierung und Ausbeutung im Kontext klinisch reiner White-Cube-Zellen sichtbar zu machen - und damit einen rein ästhetisch operierenden Diskurs mit einer hohen Dosis sozialer Brisanz aufzuladen. Dies zeigt jetzt auch die Ausstellung "Soziale Kreaturen.

Wie Körper Kunst wird" im Sprengel-Museum in Hannover, wo unter anderem mehrere Körper-Aktionen Sierras dokumentiert werden. So verpflichtete der Künstler heroinabhängige Prostituierte aus Spanien für den Preis einer Drogendosis, sich schwarze Linien auf dem Rücken tätowieren zu lassen.

Und in Helsinki, wo immerhin 10000 Obdachlose leben, bezahlte er einen von ihnen, zwei Wochen lang in einem Erdloch zu hausen.

Der Körper als Schlachtfeld realer Verteilungskämpfe, künstlerisch radikalisiert: Ob man Sierras Arbeiten nun für Sozialkitsch hält oder für eine pure Wiederholung der Verhältnisse, die er doch bekämpfen will - er treibt eine künstlerische Entwicklung auf die Spitze, in der der menschliche Leib mehr denn je zur Projektionsfläche für Analysen gesellschaftlicher Krisen und Umstürze wird. Dabei spielt die mächtige Sexindustrie keine unerhebliche Rolle: In Hannover sind etwa Bilder von Jeff Burton zu sehen, der in den kalifornischen Zentren des Erwachsenenfilms die Darsteller als zwar malerisch drapierte, aber melancholisch vereinsamte Frustpakete abgelichtet hat.

Derzeit widmen sich jedoch auch noch zahlreiche andere Schauen zeitgenössischer Kunst den neuen Zurichtungen und Sprachen des menschlichen Körpers im Zeitalter seiner gentechnischen und kapitalistischen Reproduktion: "Body Extensions" im Züricher Museum für Gestaltung erforscht das kosmetische Feintuning der Fit-for-fun-Gesellschaft mittels plastischer Chirurgie und die immer perfekter werdenden künstlichen Prothesen des Leibes. Die Ausstellung "Body Display" in der Wiener Secession erprobt Werbestrategien und Fluchtphantasien im globalen Gefüge medialen Ausverkaufs kommerzialisierter Körper. Und schließlich versucht sich die Veranstaltung "Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem" in der Wiener Generali Foundation an einem verbindlichen, zeitübergreifenden Vokabular von Körpergesten - schließlich ist, trotz Botox- oder Waschbrettbauch-Ideal, immer noch entscheidend, wie man sich bewegt und ob man noch Macht über die eigene Körpersprache hat.

Wenn es um den zeitgenössischen künstlerischen Zugriff auf die Materie Mensch geht, dann steht allerdings vor allem die Machtlosigkeit des Humankörpers im Vordergrund. Wenn man den Raum "En el aire" der Mexikanerin Teresa Margolles betritt, befindet man sich in einer Art Waschküche: Zwei Luftbefeuchter erhöhen den H2O-Gehalt der Zelle erheblich. Mit dem zu Dampf verdunsteten Wasser wurden zuvor Leichen gewaschen - und so wird man, ob man will oder nicht, mit ihren Ausdünstungen kontaminiert - und beginnt vielleicht, genauer nachzufragen. Bei den Toten handelt es sich, jedenfalls in einer derzeit laufenden Ausstellung in Mexiko City, um anonyme Opfer des Drogenkrieges.

Im April wird die Arbeit "En el aire" in einer umfassenden Einzelausstellung von Teresa Margolles im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zu sehen sein.

Die Arbeiten von Margolles oder Sierra erinnern vorderhand an die umstürzenden Aktionen der "Body Art" in den Sechzigern und frühen Siebzigern, als die Körper der Künstler plötzlich zu Leinwänden wurden, die schon auch mal mit Messern oder Pistolen perforiert wurden: Auch damals sollten sich Erfahrungen wie Lust, Leiden und Tod, manifest geworden in Krieg und Revolution, direkt in die Leiber einschreiben. Und so ließ sich Chris Burden beschießen, Gina Pane wandelte auf Rasierklingen, Marina Abramovic ließ Handgreiflichkeiten mit allerlei scharfem Gerät über sich ergehen - und das alles, um sich von abgestumpften Gefühlen und gesellschaftlicher Unterdrückung zu befreien.

Die Wiener Schule dieser Radikalkunst um Otto Mühl, Günter Brus und Hermann Nitsch wird derzeit in Museen in Wien und Graz nach Jahren der Feme wieder neu entdeckt und nobilitiert - aber ihr zersetzendes Potenzial von einst, das ganze Gewese mit nackten Leibern, Gedärmen, Schweineblut und Farbschmiere, wirkt heute eher spielerisch-burlesk als skandalös - und von einem tiefen Glauben an die Authentizität des Körpersubjekts getragen, der heute, im Zeitalter des genetischen Patchwork und der kapitalistischen Massenzurichtung der Körper, naiv und überholt erscheint.

Die "Body Art" von heute dagegen arbeitet raffinierter, aber auch zynischer - sie hat ihre Lektion posthumanen Körperdesigns gelernt. Nicht der Künstler selbst lässt seinen Körper zum Schlachtfeld werden - er trägt die realen Schlachtfelder ins Museum. Vor Kitsch und Pathos ist jedoch bisweilen auch diese neue Körperkunst nicht gefeit.

© SZ v. 12.03.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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