61. Filmfestival Locarno:Manche glauben immer noch an die Liebe

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"Die Möglichkeit einer Insel": Michel Houellebecqs Regiedebüt outet den Skandalproduzenten als verkappten Romantiker.

F. Göttler

Mathematik und Melancholie, das sind zwei der elementaren Teile des modernen Kinos, es studiert eifrig, wie exakte Körperbeherrschung und Schwermut zusammengehen.

Über das traditionelle Erzählkino schon weit hinaus: Michel Houellebecqs "Die Möglichkeit einer Insel". (Foto: Screenshot: www.lapossibiliteduneile-lefilm.com)

Nanni Moretti hat einige besonders schöne Lehrstücke dafür auf Lager - ihm ist, als Filmemacher, Schauspieler, Kinobetreiber, Filmeseher, die große Retrospektive des diesjährigen Festivals gewidmet.

In "Bianca", einem bei uns unbekannten Film aus den Achtzigern, aber schon mit Laura Morante als dem geheimen Objekt von Morettis Begierde, ist er der Mathelehrer Apicenna, der sich schwertut mit seinen Gefühlen und den Menschen, denen er sie zukommen lassen will, den Schülern und den Nachbarn.

Die Handlung geht im Grunde so, als würde James Stewart in "Fenster zum Hof" einen halben Raymond Burr in sich entdecken. Das Ganze unter den Auspizien von Jerry Lewis und Dean Martin - wo sind eigentlich, fragt man sich dabei, die schönen Locarno-Retrospektiven zum amerikanischen Kino geblieben?

Von der Gegenwart befreit

Das erste Wochenende dominierte ein Kinodebütant, der seit Jahren den Kulturbetrieb als Skandalproduzent beliefert. Michel Houellebecq hatte seinen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" verfilmt.

Houellebecq, das ist ein großer Name für ein Festival wie Locarno, das immer ein wenig an seiner Zwischenstellung laboriert zwischen Cannes und Venedig, die ihm die ganz großen Filme abziehen.

Dennoch wurde er eher nebenher präsentiert, in der Sektion "Play Forward" - eine merkwürdige Idee bei einem Mann, der der Menschheit jede Zukunft abspricht.

Mit der "Insel" hat sich Houellebecq von der Gegenwart befreit, es ist ein Science-Fiction-Roman aus einer unbestimmten Zukunft, eine Wundertüte für Houellebecq-Fans wie -Gegner gleichermaßen.

Eine Abrechnung mit der Dummheit, der Gleichgültigkeit, der Isolation des modernen Menschen und mit der Sinnlosigkeit der Gesellschaft, die er geschaffen hat, und die langsam aber sicher auf die Katastrophe zumanövriert.

Eine Sekte verspricht Rettung im Roman, ewiges Leben, zeitlose Existenz als Klon. Was sie nicht garantieren kann, sind Sinn und Sinnlichkeit, Sentiment und Spaß am Sex.

Freche Unverschämtheit

Erinnerungen werden konserviert, nicht die Menschen, die sie tragen. Die Idee vom ewigen Leben suspendiert die Individualität. Kein leichtes Buch und nicht wirklich verfilmbar. Nicht dass man sich wünschte, Houellebecq würde seine erste Regie verpatzen -aber es hatte doch Rätselraten und Spekulationen gegeben über die Entstehung des Films und seine Präsentation.

Heillose Zersetzung und Misanthropie waren seit der Aufklärung das Lieblingsgeschäft der französischen Intellektuellen, und Houellebecq hat es in seinen Büchern geschafft, sie an ihr natürliches Ende zu führen.

Er ist dabei - ein Preis, den er gerne zahlte - zur erst umstrittenen, inzwischen eher absurden Medienfigur geworden. Die Verachtung, der Zynismus, die Lust an der boshaften Formulierung des Schriftstellers hat sich nun auf wundersame Weise transformiert in die freche Unverschämtheit des Filmemachers Houellebecq.

Die Anmaßung des Autors ist durch eine neue Unschuld gemildert. Er hat hundert Jahre menschliche Apokalypse in 90 Filmminuten kondensiert, er macht großes, weiträumiges Kino mit minimalen Mitteln, so wie es einst im Hollywood der Fünfziger Brauch war.

Wer sein Vorbild war, lässt er ganz ungeniert durchscheinen, wenn er den Film mit einem dreisten Verschnitt von Strauss' Zarathustra-Motiv eröffnet, das durch den Film "2001" zum Klingelton der Postmoderne wurde.

Wie sein Meister Stanley Kubrick hat auch Houellebecq seine Einstellungen, wann immer es ging, eigenhändig kadriert. Aber der Einzelgänger hat sich auch der Mitarbeit des Kurators Hans-Ulrich Obrist und von Künstlern wie Rosemarie Trockel und Rem Kohlhaas versichert, um die Welt der Zukunft zur Darstellung zu bringen, das Spiel ihrer Deformation und Dekonstruktion.

Schon in den ersten Bildern nimmt diese Welt die harten Konturen an, die man aus Filmen von Antonioni und den Fabrikbildern der Bechers kennt.

Benoît Magimel spielt einen jungen Mann, der dem Lehrer der neuen Sekte assistiert und dann von seiner Technik des ewigen Lebens profitiert. Man braucht keine Frau mehr dafür, keine Mutter.

Oberflächlichkeit ist kein Schimpfwort

Von Generation zu Generation lässt der neue Mensch sich nun fortklonen, wird immer teigiger und unförmiger, manchmal gleicht Magimel für Momente seinem Schöpfer Houellebecq selbst. Und die Welt wird schließlich nach der großen Katastrophe ebenso konturlos wie die Protagonisten, die sie bevölkern.

Es ist sicher kein Skandal, den dieser Film liefert, er hat nichts mehr von der furiosen Wir-sind-alle-Arschlöcher-Attitüde Houellebecqs. Sie haben es weichgekocht - das ist der alte Vorwurf gegenüber Literaturverfilmungen.

Aber Houellebecq hat nie kaschiert, dass er in der Welt der technischen Reproduzierbarkeit schreibt, dass er die Oberflächen liebt und dass Oberflächlichkeit kein Schimpfwort für ihn ist.

Im Film tritt Arielle Dombasle als Vertreterin des postmodernen Chics auf, mit ihr erleben wir die Welt, die ihr eigenes Museum wurde. Houellebecq hat sich als verkappter Romantiker, als sentimentaler Hund geoutet.

Aber schon die Surrealisten, die beinharten Provokateure par excellence, hatten nie ihre Sentimentalität verleugnet, den wahnwitzigen Glauben an die absolute Liebe. Der steht auch am Ende bei Houellebecq, aber vielleicht ist das dann alles eine Formsache.

In "Bianca" wurde Nanni Moretti in einer seiner ersten Unterrichtsstunden von einem Schüler mit dem Zahlenquadrat in Dürers "Melencolia" konfrontiert, eine hoffnungslose Überforderung. Houellebecq ist über das traditionelle Erzählkino schon weit hinaus. Ihn interessiert nicht die Interaktion der Menschen, sondern die der Gehirnzellen, der Nervenenden. Das würde er gerne filmen. Synapsenkino!

© SZ vom 11.08.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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