2004:Ein Rückblick in zwölf Etappen

Lesezeit: 13 min

Von Maut-Proben und Merkels Männern bis zu Pisa.

SZ

Januar: Ich bin ein Star

Nein, wir waren es nicht. Ehrenwort. Wir haben sie da nicht rausgeholt. Denn die Idee mit dem Camp am Ende der Welt für die durchgefallenen Hofschranzen der bunten Seiten, die fanden wir eigentlich ganz gut.

Aber der Rest von "Ich bin ein Star - holt mich hier 'raus!" (vom 9. Januar an auf Sendung) war die Pest: Lästerzungen, Straußenschnabel, Känguruhoden - und vor allem die deprimierende Tatsache, dass sie alle, alle am Ende doch wieder heimkehrten. Zu den recycelten Knallchargen fiel einem ja nur noch Adorno ein, der mal schrieb, bei manchen Menschen sei es schon eine Unverschämtheit, wenn sie "ich" sagten.

Wir wollten über die traurige Veranstaltung eigentlich nie wieder ein Wort verlieren, höchstens mit Harald Schmidt Desiree Nicks Konterfei kommentieren: "Die Vogelgrippe erreicht Deutschland." Aber dann war es doch wieder sinnvoll, dass Link, Nick & Co. sich gegenseitig verbal zerfleischten: ein bisschen wie in einem Raubtierkäfig, in den ein paar magere Fetzen C-Prominenz heruntergelassen werden, um die sich dann alle balgen.

Und das nehmen wir auch mit für 2005; wir nennen es das Mjunik-Modell: Es wird eine harte, eine sehr harte Tür geben für all diejenigen, die in den erlauchten Club der Heidiklums dieser Welt hineindrängen.

Der Zerberus heißt Schwarzenegger, auf seiner Festplatte ist nur ein Satz gespeichert: "Du kommst hier net rein." Sollen sich all die Abgehalfterten doch für nichts zu blöd sein da draußen, sich die Kleider vom Leib reißen, was auch immer: Wir sehen es nicht. Statt dessen sitzen wir bei der besten Party des Planeten in der TV-Loge. Dann ist endlich wieder Glamour in der Welt.

Februar: Die Maut-Probe

Zwölf Tage, die die deutsche Straßenverkehrskultur erschütterten. 17.Februar 2004, Verkehrsminister Stolpe erklärt die Verhandlungen um das neue satellitengestützte Lkw-Maut-System für gescheitert, der Vertrag mit dem Toll-Collect-Konsortium, das erneut den angesagten Betriebsbeginn nicht einhalten kann, soll gekündigt werden.

Resignation. Regression. Zurück zu Vignette und Mautpickerl.

Der Schaden erreicht Milliardenhöhe, Milliarden Euro Einnahmeverlust, Milliarden zu schadenfrohem Grinsen hochgezogene Mundwinkel. Deutschland ist blamiert als technologisches Spitzenland - und die Österreicher fahren saugut mit ihrem alten System. Sätze fallen, von unfassbarer Polit-Melancholie.

"Unsere Probleme kennen Sie alle. Und das Mitleid ist europaweit grenzenlos." Dann greift der Kanzler ein. Neue Krisensitzungen. The show must go on. Und wirklich, am 29. Februar - dem Himmel sei Dank für die Schaltjahre - die Einigung: Toll Collect wird definitiv am 1. Januar 2005 starten. Definitiv...

Michendorf Nord ist der Wendepunkt. Die Maut, seit Jahrhunderten unglücklich mit skrupellosem Wegegeld und Abzockerei assoziiert - Brücken soll es gegeben haben, da wurden nicht nur die Gefährte abkassiert, die drüber mussten, sondern auch noch die Schiffe, die drunter vorbeizogen -, garantiert nun die Verkehrskultur.

Signalisiert gute Führung nicht nur im Transport, sondern satellitengestützte Geborgenheit, die alle unsere Bewegungen, innen wie außen, regulieren wird. Obu überall, den On-Board-Units gehört die Zukunft. The show will go on. Zirkusleute, show people hatten immer freie Fahrt, in jedem Mautsystem!

November: 99 Meter

Die Stadt versank. Alle anderen lachten. Es war der Tag, an dem sich München ein neues Gesetz gegeben hatte. Ein Gesetz zur Abschaffung der Zukunft. Ein Gesetz, das die Angst, der Himmel könne einem auf den Kopf fallen, sobald man ihm zu nahe komme, in einen Bürgerentscheid fasste: "Seid ihr dafür, dass niemals mehr ein unmünchnerisch-fremdes, nämlich hohes Haus gebaut werden darf?" - "Ja! Nur Bäume, Kirchen und Georg Kronawitter sollen in den Himmel ragen."

Dann spaltete sich die Stadtgesellschaft. Hochhausbefürworter wurden mit brennenden Leserbriefen beworfen und flohen in so progressive Städte wie Augsburg oder Ingolstadt. Hochhausgegner wurden mit flammenden Artikeln beschossen und fingen an, sich mitsamt ihren Häusern in die Erde zu graben. Tiefer und tiefer.

Bald sah man von München nur noch Luftrohre, maximal 15 Zentimeter über der Schotterebene. Die einen gingen in die Fremde, weil sie nach oben strebten. Die anderen strebten der Hölle zu, weil sie das Fremde fürchteten. Eines Tages war München von den Radarschirmen verschwunden. Einfach weg.

Weil die Ex-Münchner aber München vermissten und sie außerdem auch kein Haus mehr hatten, kein niedriges und kein hohes, über das man hätte streiten können, kamen sie zurück. Die einen aus der Hölle, die anderen aus der Fremde, was ja auch keinen Unterschied macht und sehr eint. München wurde langsam wieder aufgebaut, Stein auf Stein, höher und höher.

Kronawitter bekam ein radiergummihohes Miniaturdenkmal, die Einwohner vertrugen sich wieder - und ganz nebenher hatte München die Bauwirtschaft der Welt gerettet.

Dezember: Pisa ist ein Turm

Zum dritten Mal warf sich Deutschland in diesem Jahr vor Pisa auf den Boden, zum dritten Mal war das ganze Land schockiert: So hilflos, so ganz und gar bescheuert möchte niemand aussehen, von allen Implikationen für die Fähigkeit der Nation, im internationalen Wettbewerb zu bestehen, einmal abgesehen.

Peinlicher als der Umstand, bildungsmäßig kurz vor Griechenland zu liegen und sich allenfalls noch mit Österreich messen zu können, wäre nur noch, von der eigenen Großmutter auf Mängel in der Rechtschreibung hingewiesen zu werden.

Doch Rettung naht, und sie kommt, wie meistens, von unten - aus dem einfachen Grund, dass keiner es erträgt, allzu lange mit gesenktem Kopf herumzulaufen. Da mag Edelgard Bulmahn noch eine Weile von Elite-Universitäten schwärmen, da mögen bayrische Hochschulpolitiker von einer "University of Munich" träumen, da mögen ganze Parteitage "Spitze" rufen - die wahre Erneuerung wird vom Stumpf ausgehen.

Denn was in den Pisa-Studien moniert wurde, war nicht die Größe der Laboratorien, die Ausstattung mit Forschungsgeldern, die Häufigkeit des Zitiert-Werdens in internationalen Zeitschriften. Stattdessen werden mangelnde Fertigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen kritisiert, Versäumnisse in der Vermittlung von elementaren Kulturtechniken also.

Und diese werden nicht in Harvard oder an einer Haute Ecole unterrichtet, sondern in der Grund- und Hauptschule, an den Institutionen also, an denen Sozialdemokraten schon immer besonders gelegen war. Das wird man im Jahr 2005 verstehen, und an weiteren Siegen der Sozialdemokratie wird kein Zweifel mehr sein.

März: Konsument gesucht

Jedes Jahr wird er begangen, doch nie wirkte er lügnerischer, nie kostete es größere Überwindung, den Weltverbrauchertag zu feiern. Als am 15. März wieder des Konsumenten gedacht werden sollte, war dieser verschwunden. Zum ersten Mal fand der Weltverbrauchertag ganz ohne Verbraucher statt.

Niemand verspürte vier Tage nach den Anschlägen von Madrid die Neigung, sich zwischen Bademantel und Bügeleisen zu entscheiden. Niemand wollte zehn Tage, bevor der Kanzler im Bundestag "unseren Weg zu neuer Stärke" erklärte, den Weg zum Kaufhaus wagen. Verlassen standen die Ramschtische, und Ramsch war alles, was sich die verängstigte Industrie ihrer verschüchterten Kundschaft anzubieten traute.

Voll Klarheit sprach der Bundesverband der Verbraucherzentralen von einer "Konsumverweigerung aus Unsicherheit", auch und gerade heute, am Welttag des abwesenden Verbrauchers.

Traurig klang der März dann auch aus, mit einer laut GfK und Ifo abermals verschlechterten Stimmungslage, mit viel Kritik für Schröders Regierungserklärung und mit einem Finanzminister, der den schwachen Konsum eine "echte Wachstumsbremse" nannte.

Dann aber, vermutlich in der Nacht vom 31. März zum 1. April, entfalteten die Kanzlerworte ihre Wirkung: "Weltspitze", hatte er gesagt, "Weltspitze" müsse Deutschland werden. Und da besann sich der Konsument seiner patriotischen Pflicht, verließ den Schmollwinkel und zupfte zaghaft am Baumwollhemd für 1 Euro 99.

Und die Konsumentin liebkoste das Baumwollkleid und zahlte tapfer. Und der Senior verstaute den Basmatireis und die Greisin den Bilderrahmen und der Twen die Bücherwand. Und sie alle trugen ein munteres Wörtlein auf ihren Lippen: "Weltspitze, Weltspitze". Und das Weihnachtsgeschäft brach sämtliche Rekorde, und der Umtausch blieb aus, und im Glanz des Geldes badete die Nation sich gesund.

Der Konsument ist zurückgekehrt, und jeder Tag des neuen Jahres wird ein Weltverbrauchertag, ein Weltverbraucherweltfest werden.

April: Merkels Männer

Am Ende hat alles nichts genützt. Er machte sich lustig über die angebliche Affäre, er sah keinen Grund zum Rücktritt - doch die Bundesregierung blieb stur, die Staatsanwaltschaft durchsuchte alles, und schließlich gab Ernst Welteke, der Präsident der Deutschen Bundesbank, auf und trat zurück.

Hatte er sich doch von der Dresdner Bank ins Berliner Hotel Adlon einladen lassen und von BMW nach Monte Carlo. Das war mit dem seltsamerweise in Deutschland wiedererstarkten Moralgefühl nicht zu vereinbaren, das plötzlich sogar die Offenlegung von Managergehältern fordert. Und so musste Welteke, der Uneinsichtige, gehen.

Doch was auf den ersten Blick wie ein Debakel für die Regierung aussah, entpuppte sich als Menetekel für die Oppositionsführerin Angela Merkel. Denn ihre Männer mussten meist nicht einmal mit aller Gewalt zum Rücktritt gedrängt werden, sie gingen von selber: Friedrich Merz (12. Oktober), Horst Seehofer (22. November) und Laurenz Meyer (22. Dezember) - sie alle wollten oder konnten nicht mehr in direkter Nähe ihrer Chefin arbeiten, und Wolfgang Schäuble lehnte es gleich ganz ab, als Merz-Nachfolger in ihre Nähe zu rücken.

Ist das die Merkel-Dämmerung? Nie und nimmer. Denn wie heißt es so schön: Neues Jahr, neues Glück. Und plötzlich sieht die Lage mit den wieder länger werdenden Tagen ganz anders aus. Auch weil Moral und Frau einfach besser zusammen passen als Moral und Mann.

Also werden noch viel mehr Männer zurücktreten und -weichen müssen, vielleicht sogar Merkels größte Gegner-Freunde, Edmund Stoiber und Roland Koch. Das Großreinemachen, die Befreiung vom Mann, die Herrscher-Dämmerung - das ist das große Ziel der Angela Merkel.

Und so sehen wir sie schon im Geiste am Ende des neuen Jahres nicht mehr als Primadonna unter Primaten, sondern als Frau unter Frauen: Dann endlich wird diese Republik besser werden, dann endlich wird die Union ein reale Chance auf einen Wahlsieg haben.

Mai: Grand-Prix

Man klingt ja so schnell reaktionär. Aber früher war es einfach schöner. Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen. Angleterre douze points, Italie huit, Allemagne trois...

Man war unter sich, mal gewann Nicole, mal dieser adrette Johnny Logan; oder die netten dänischen Brüder. Im Sommer besuchten sich die Bewohner dieser Länder wechselseitig, um beieinander Sprachkurse zu belegen.

Eines Abends aber, dieses Jahr im Mai, bestand Europa plötzlich zur einen Hälfte aus jugoslawischen Bürgerkriegsrepubliken und zur anderen aus ehemaligen Sowjetgebieten, die wiederum zur Hälfte zur EU gehörten und zur anderen Hälfte "vor der Tür standen."

Hinter der Tür saßen nur noch ein paar Alteuropäer herum, die aber nichts mehr zu melden hatten, weil sich die Neuen beim diesjährigen Grand Prix gegenseitig dermaßen schamlos die Punkte zuschusterten, dass man als Westeuropäer erleben konnte, wie das sein muss, wenn der Wirtschaftsminister von Mali sich in ein Treffen der G 8 verirrt.

Eine Ukrainerin gewann! Eine Ukrainerin!! Wie die schon angezogen war. Kommt aus Kiew und gewinnt unseren schönen Grand Prix mit der Eurovisionshymne, den mal die Desiree Nosbusch moderiert hat. Zweiter wird Serbien-Montenegro. Dazu muss man ja gar nichts mehr sagen. Deutschland wird Achter, eingekeilt von Albanien und Bosnien-Herzegowina. Und wo fand das Ganze statt? In Istanbul.

Nächstes Jahr wird ein neuer Abstimmungsmodus eingeführt. Die Euro-Länder bekommen ihre Punkte am Ende 2:1 umgetauscht. All die impertinenten Schwellenländer hingegen, in denen man diese Zischelsprachen spricht, Sprachen, in denen die Konsonanten permanent phonetische Auffahrunfälle verursachen, müssen sich im Vorfeld auf drei gemeinsame Vertreter einigen.

Juni: Musikportal der Tränen

Auf der dunklen Seite des Erdtrabanten ein Ächzen. Die Deutsche Musikindustrie will zurück in die Gewinnzone. Und hat endlich die Lösung: InternetMusik-Downloadportale (IMDP). Flankiert von einer Kampagne gegen böse böse Raubkopierer, die nicht in IMDPs shoppen. Nach langem Rumpeldipumpel Eröffnung der ersten Stores. Doch ach! Irgendwas zwischen Yellow-Submarine-Tante-Emma und Raumschiff-Orion-Baumarkt ist herausgekommen, für das vermutlich Stolpes Maut-Konsortium die Gebühren eintreibt.

Superkompliziert, supersperrig, superbenutzerunfreundlich: Keine einheitlichen Preise, keine einheitlichen Formate, keine einheitliche Software, keine einheitlichen Kopierschutzregeln, keine einheitlichen Player - und das bei gepflegt geringer Auswahl. Da shoppte kaum jemand gerne.

Das Greinen der Industrie ging also weiter, die Kampagne gegen die Schwarz-Kopierer auch. Dann: Ankunft des weißen Ritters. Apples Internet-Portal "iTunes" eröffnet mit (Trommelwirbel!)...einheitlichen Preisen, einheitlichen Regeln und einem Riesen-Angebot (Tusch!). Und das abgestimmt auf das erste Superding des neuen Jahrtausends, den iPod.

Seither buchstabiert man "MP3" als Musik-Play-3faltigkeit: Genialer Shop, geniale Software, geniales Design. Mehr als 200 Millionen Titel wurden bei iTunes schon verkauft. Ganz irdisch.

Aber im deutschen Eck des trostlosen Universums herrscht weiter Ratlosigkeit. Ein Musikmanager analysierte, als man die ersten deutschen Portale schloss: "Uns fehlt die kritische Masse." Mit Verlaub, lieber Manager, ganz im Gegenteil: Die Masse ist längst kritisch genug, nicht überall zu shoppen. Aber die Kampagne gegen die Raubkopierer...klasse!

Juli: Hartz-IV-Land

Es war der Aufstand der Anständigen. Mindestens. Ein Aufschrei der Empörung ging durchs Land und erfasste alle und vor allem auch jene, die sonst immer unter mangelnder Bürgernähe zu leiden pflegen. Die Politiker entdeckten ihre Neigung zur außerparlamentarischen Opposition.

Jetzt konnten sie, endlich, dem Volk aufs Maul schauen und ihm nach demselben reden. Eine richtige kleine Volksbewegung - das gab's schon lange nicht mehr. Da wollte keiner abseits stehen.

Selbst der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt, dessen Partei den Gesetzen zur Sozialstaatsreform zugestimmt hatte, aber nun nichts dabei fand, eifrig mit den Wölfen zu heulen, zog auf die Straße, um gegen Hartz IV zu protestieren.

Es war eine gesamtdeutsche Weihestunde der Verlogenheit und ein Musterbeispiel für die hohe Kunst der abstiegsbedrohten Mittelklasse, Besitzstandsdenken als Gerechtigkeitsverlangen umzuformulieren. Ja, man war sich nicht zu schade, bei diesem politischen Straßentheater die Symbolik von 1989 zu bemühen und den Geist der Leipziger Montagsdemonstrationen zu beschwören. Es war gespenstisch.

Die Bundesregierung setzte um, was seit langem parteiübergreifend Konsens war, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, und Deutschland jaulte auf, als hätte der Kanzler die Wiedereinführung des Manchesterkapitalismus angeordnet.

Ein Fragebogen ist künftig vom Arbeitslosen auszufüllen, um gegenüber der Bundesagentur für Arbeit seine Bedürftigkeit darzustellen, und Deutschland bebt vor Zorn, als handle es sich um die hochnotpeinliche Befragung durch die heilige Inquisition.

Solche Leiden, ist zu befürchten, will der Bundeskanzler seinen Deutschen kein zweites Mal zumuten. Und weil die Union ihn in Sachen Hartz auch nicht gerade vor sich hertreibt, kann er prima zu seiner Politik der ruhigen Hand zurückkehren. Bis zur nächsten Wahl kommt nix mehr - so etwa lautet die Beruhigungsformel Franz Münteferings.

Und Gerhard Schröder nimmt sich seinen Minister Clement an die Brust wie einen Buben, dem man auf die Finger schauen muss, damit er nicht zum nächsten Streich ausholt, und fordert wöchentlichen Bericht über die Umsetzung von Hartz IV.

Die Rückkehr der Wohlfühlpolitik ist angesagt, alle Energie und Leidensfähigkeit aufgebraucht, der Kanzler bereitet sich seelisch auf die Fußballweltmeisterschaft vor - und so steht leider ernsthaft zu befürchten, dass sich die Stimmung 2005 tatsächlich aufhellt. Für den Reformprozess verheißt das nichts Gutes. Wir begrüßen ein Jahr der guten Laune und des Stillstands.

August: Sportpleiten

Die "Vielseitigkeits"- (ehemals Military-) Reiterin Bettina Hoy sagte vor ein paar Tagen in einem Interview: "Mein Mann und ich freuen uns beide auf den 31. Dezember, damit wir mit allem abschließen können. Wir wollen sagen können: Jetzt ist das Jahr vorbei, jetzt geht es von vorne los."

Ja, wer will das nicht, mit all dem abschließen? Mit dem deutschen Sommer des Jammers, der im sportlichen Desaster kulminierte? Mit der ungerechten Aberkennung der Goldmedaille, mit der Enttäuschung der traurigen, auch noch unter Doping-Verdacht stehenden deutschen Pferde?

"Einen Rucksack" schleppe er mit sich herum, hatte schon im Juni Rudi Völler gesagt, als er sich nach kläglicher Vorstellung von der Fußballnationalmannschaft verabschiedete, und dieser Rucksack des Scheiterns mache es, dass er die Jungs nicht in das gelobte Weltmeisterdeutschland des Jahres 2006 führen könne.

Damit wurde ein gestürzter Held aus der euphorischen Wiedervereinigungszeit der Neunzigerjahre, der 1990er-Weltmeister, zum Symbol für das ernüchterte, wachstumsschwache Land. "Es ist eine Deprimierung da", wie es Andy Möller vor Jahren formulierte. Und Völlers die eigenen Grenzen anerkennendes Achselzucken in der Fankurve wurde zur deutschen Geste des Jahres - so unendlich traurig und sympathisch zugleich. "Wir haben alles versucht."

Es folgte im August Franzi, auch sie ein früherer Wiedervereinigungsstar, mit ihrem Schwimmertrupp, der statt mit siegreichen Zügen das olympische Chlorwasser mit Tränenströmen ins Wallen brachte. Besorgte Nachwuchsdebatten bewegten das Land: die gleiche Sorge um den Medaillenspiegel wie um den Hochschulrankings, um Juniorprofessoren und Pisa-Schüler.

Wir haben alles versucht - das war für die Deutschen vielleicht die schlimmste Wahrheit.

Jetzt will man wie Bettina Hoy partout nach vorne schauen, auch wenn die Male bleiben: "Kretsche", dessen Liaison mit Franzi im Jammerjahr zu Ende ging, und der das Scheitern im Athener Handball-Finale selbst vollzog, erklärte jetzt, er wolle die Franzi-Tätowierungen an seinem Körper nicht entfernen.

Anders als die Vielseitigkeitsreiterin, anders auch als Rudi Völler, der forderte, sein Nachfolger müsse "unbefleckt" sein, anders als sie alle hat Kretsche verstanden: Auch mit noch so viel Wahnsinns-Optimismus, in den die Gefühle der Deutschen umschlagen, wenn sie den kalifornischen Manager Jürgen Klinsmann auf dem Weg zu Gerhard Schröders "FC Deutschland 06" voranschreiten sehen, wird man die Vergangenheit nicht los.

September: Ach, Opel

Mindestens eine Welt bricht zusammen, als General Motors die Entlassung von 12.000 Mitarbeitern in Europa bekannt gibt. Die meisten davon sollen in Deutschland geopfert werden. Die Deutschen kaufen nicht genug Mittelklasseautos, sagt die Konzernleitung, Opel ist nicht mehr modern.

Es folgt die nächste Katastrophe: Karstadt muss die meisten seiner Warenhäuser abstoßen, denn die Deutschen kaufen lieber teurer und lieber billiger, aber nicht mehr bei Karstadt. Der Mittelstand, wo ist er hin? Mahnwachen folgen in Bochum und Rüsselsheim, bei Karstadt tagt der Betriebsrat rund um die Uhr.

Was haben wir falsch gemacht?, fragen sich Arbeiter und ringen Hände vor der Kamera. Was können wir tun?, fragen die Karstadt-Angestellten ihre Chefs, die vor der Kamera die Hände ringen. Die Gewerkschaften bringen Lichterketten ins Spiel, solidarisch vereint von Rüsselsheim bis Bochum und eine Luzienkrone aufs KaDeWe.

Der Vorschlag wird abgelehnt, weil es erst nach dem Ende der Sommerzeit früh genug dunkel wäre. Den Kanzler anrufen? Vor jedem Kaufhaus stünde eine Holzkiste bereit, flüstert einer konspirativ in sein Handy, er müsste nur draufsteigen und die Filiale persönlich retten. Der Kanzler hat diesmal aber keine Zeit, knarzt es zurück, er muss Putin retten.

Ein Auto-Korso vielleicht, Sternfahrt nach Berlin, eine Hate Parade unter der Siegessäule? "Brecht die Macht der multinationalen Konzerne!" auf die Transparente schreiben? Nicht mehrheitsfähig, weil die Autos zum Einkaufen gebraucht werden. Bei Lidl, bei Aldi, bei Penny, auch (solidarisch!) bei Karstadt. Trotzdem: Deutschland kauft zu wenig. Nur ein Wunder kann den deutschen Mittelstand noch retten.

Am Neujahrsmorgen findet jeder Deutsche einen Umschlag vor der Haustür. In dem Umschlag steckt ein Einkaufsgutschein über eintausend Euro und ein zweiter für ein neues Auto. Ein Geschenk? Ein Wunder!

Endlich ist das Geld da, das man schon immer ausgeben wollte. Schon mittags öffnen die Geschäfte, das Fließband in der Fertigungshalle wird auf schnelleren Takt eingestellt. Deutschland produziert wieder und, ja, Deutschland kauft wieder. Deutschland braucht plötzlich alles.

Endlich werden wieder Opel Vectras, Übergangsmäntel, Digitalwecker, Moonboots, Aufsitz-Rasenmäher, Keilriemen, Minidisc-Player, Couchgarnituren, Grillanzünder, Schlüsselanhänger, Schiller-Gesamtausgaben, Phaetons, Nähmaschinen, Tee-Services, Vorhängeschlösser, Schmusedecken, Aktien, Wellensittiche, Schuhschränke, Frottee-Bademäntel, Zimmerspringbrunnen und Ü-Eier verkauft.

Schon am Abend sind die Lager leer. Nachschub muss her. Die Arbeitslosen werden in Stretch-Limos von der Straße geholt und an ihre neuen Arbeitsplätze geleitet. Die Wirtschaft stürzt sich in den Aufschwung, Hans Eichel wird unter den Steuereinnahmen begraben, Gerhard Schröder wiedergewählt. Alles wird gut.

Oktober: Ankes Abgang

Als sie nach fünf Monaten und 78 Sendungen am 21. Oktober aufhörte, sagten viele, sie habe nie angefangen. Weil Anke Engelke das Late-Night-Konzept ihres Vorgängers Harald Schmidt aufgezwungen worden sei, habe sie nur scheitern können. Als er nach zwölf Monaten und rund 20.000 Seemeilen am 23. Dezember wieder anfing, sagte der Weltreisende Harald Schmidt, er habe nie aufgehört.

Weil sein Resturlaub sonst verfallen wäre, habe er sich 364 Tage frei genommen. "Kreative Pause" hatte er das damals genannt, in seiner letzten Sendung, als er sich mit Auszügen aus Samuel Becketts Theaterstück "Endspiel" verabschiedete.

Tatsächlich wirkte es, als habe er die ganze Zeit über auf diesen Augenblick gelauert: Nur zehn Tage nach Anke Engelkes Ende kündigte Harald Schmidt an, er werde in der ARD da weiter machen, wo er bei Sat1 aufgehört hatte.

Das stimmt insofern, als Schmidt aus dem "Endspiel" nur seinen Leibsklaven Manuel Andrack mit hinüber genommen hat. Wie Hamm und Clov im Stück wollen sie die Gesetze des Mediums nun wieder absichtsvoll verachten. Denn darauf beruhte Schmidts Erfolg genau so wie vormals der Becketts.

Über Jahre war Harald Schmidt unter all den Unterhaltungsdienstlern des Fernsehens derjenige gewesen, der nicht mitmachte, sondern Kollegen wie Anke Engelke dabei zuschaute, wie sie tapfer hampeln, um die Leute zum Lachen zu bringen.

Von jetzt an kann man ihm selbst dabei zuschauen, wie schwer es ist, die Nachfolge von Harald Schmidt anzutreten. "Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu...zu...bedeuten?" fragt sich Hamm angstvoll in Becketts "Endspiel".

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