Zeitfresser E-Mails:Wo sind wir stehengeblieben?

Ökonomen haben die Büro-Kommunikation untersucht: Ständig werden Mitarbeiter von E-Mails terrorisiert, ihre Konzentration leidet, die Fehlerquote steigt. Die Experten präsentieren verblüffende Lösungen.

J. Bönisch

Es ist wie mit Schokolade oder Chips: Natürlich sind sie ungesund, das weiß jedes Kind. Trotzdem gelingt es kaum zu widerstehen. Jeder greift zu, wenn eine Schale auf dem Tisch steht.

Posteingang, iStock

Posteingang: Wer Haschisch raucht, kann sich besser konzentrieren als jemand, der parallel zur Arbeit E-Mails abruft.

(Foto: Foto: iStock)

Genauso läuft es, wenn rechts unten an unseren Monitoren ein kleiner, gelber Briefumschlag erscheint: Wir haben Post, signalisiert das. Und schon unterbrechen wir unsere Arbeit um nachzusehen, wer da etwas von uns will. Natürlich wissen wir, dass die Nachricht vermutlich nicht sofort beantwortet werden muss, dass uns das Abschweifen Zeit kostet und unsere Arbeit zerstückelt, dass wir so nie konzentriert an einem Stück unsere eigentlichen Aufgaben erledigen können. Und trotzdem wollen wir unbedingt wissen, was da im Posteingang auf uns wartet. Und zwar sofort.

In Panik ohne Postfach

Nach Berechnungen des amerikanischen Beratungsunternehmens RescueTime, das Nutzerprofile von 40.000 Angestellten analysierte, öffnet ein typischer "Wissensarbeiter" etwa 50 Mal pro Tag sein E-Mail-Fenster, 77 Mal benutzt er das Instant-Messaging-Programm für den schnellen Versand von Texten, nebenbei besucht er noch etwa 40 Web-Seiten.

Zahlreiche Umfragen und Fallstudien kommen regelmäßig zu ähnlichen Ergebnissen: Glaubt man einer Studie des Softwarehauses Symantec, haben 51 Prozent aller europäischen Beschäftigten Schwierigkeiten mit der wachsenden Zahl von Mails, die sie täglich bearbeiten müssen. 21 Prozent sind sogar abhängig: Sie rufen ständig und zwanghaft ihre Nachrichten ab und geraten in Panik, sobald sie keinen Zugang zu ihren Postfächern haben.

Nach einer Studie der University of California sind Mitarbeiter in Büros nur elf Minuten lang dazu in der Lage, einer Aufgabe am Stück nachzugehen. Dann werden sie unterbrochen - und kehren erst nach 25 Minuten wieder zurück zum ursprünglichen Vorgang.

Lieber Drogen als E-Mails

Das Londoner King's College wählte im Jahr 2005 einen anderen Ansatz, um die Leistungsfähigkeit moderner Angestellter zu überprüfen: Die Wissenschaftler stellten zwei Gruppen die selben mittelschweren Aufgaben. Gruppe Nummer eins wurde parallel zur Bearbeitung mit E-Mails bombardiert, Gruppe zwei bekam statt dessen Marihuana verabreicht. Man ahnt es bereits: Die Zugedröhnten schnitten besser ab.

Nun liegt erstmals eine E-Mail-Studie vor, in der gezielt die deutschen Angestellten unter die Lupe genommen wurden. Entstanden ist sie an der TU Freiberg, und ihre Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung wie die internationaler Untersuchungen. Im Durchschnitt bekommen die deutschen Angestellten 29 E-Mails pro Tag. Aus dieser Zahl ist Spam bereits herausgerechnet. Sie verbringen einen Großteil ihrer Zeit damit, diese Nachrichten zu bearbeiten und zu beantworten, nämlich 18,3 Prozent. Zum Vergleich: Das Erledigen der Kernaufgaben beansprucht nur 26 Prozent, Besprechungen von Angesicht zu Angesicht nur 16 Prozent der Arbeitszeit.

Auf der nächsten Seite: Wie durch schlecht oder missverständlich geschriebene E-Mails Konflikte und unnötige Aktivitäten ausgelöst werden.

Wo sind wir stehengeblieben?

E-Mail-Kontrolle in der Freizeit

Die 327 Teilnehmer der Studie geben an, dass knapp 30 Prozent der empfangenen E-Mails nicht wichtig sind, sie sich aber durch fast die Hälfte der Nachrichten in ihrer Arbeit gestört fühlen. "Dies liegt vermutlich auch daran, dass sich fast alle Befragten kontinuierlich über den Eingang neuer Mails informieren lassen", sagt Michael Nippa. Fast die Hälfte der Befragten kontrolliert ihre geschäftliche Mail-Kommunikation sogar auch in der Freizeit.

"Die Mehrzahl der Befragten sieht in der E-Mail-Kommunikation einen Hauptgrund für die zunehmende Informationsflut, der nur noch schwer Herr zu werden ist", erklärt Nippa. "Denn Kunden und Vorgesetzte erwarten, dass Mitarbeiter rund um die Uhr erreichbar sind." Zudem habe eine bemerkenswerte Anzahl von Befragten die Erfahrung gemacht, dass durch schlecht oder missverständlich geschriebene E-Mails erhebliche Konflikte und unnötige Aktivitäten ausgelöst würden.

Management by Ping Pong

Dennoch sei es falsch, von der E-Mail nur als Belastung zu sprechen, so Nippa. "Sie ist ein durchaus sinnvolles Medium, das sehen auch unsere Studienteilnehmer. Aber man sollte ihren Einsatz öfter und sinnvoller prüfen." So werde durch E-Mails eine "Kultur der Delegation von Verantwortung" begünstigt: "Forward- und CC-Buttons werden dazu genutzt, sich Problemen einfach zu entledigen. Indem man den Chef auf CC setzt, trägt man selbst nicht mehr die Verantwortung, sondern reicht sie weiter an ihn." Und leite man eine Nachricht weiter, schiebe man auch die Bearbeitung der darin enthaltenen Aufgabe ab. "Das ist Management by Ping Pong."

Im Projektmanagement dagegen könne es durchaus zweckmäßig sein, das Team via Mail auf dem Laufenden zu halten. Nippa kann sich weitere Situationen vorstellen, in denen elektronische Nachrichten angenehmer sind als persönlicher Kontakt: "Schreibt der Chef keine E-Mails mehr, steht er eben öfter persönlich in der Tür. Das bedeutet eine noch stärkere Unterbrechung."

Um der E-Mail-Flut Herr zu werden, kursieren in der Ratgeber- und Managementliteratur verschiedene Vorschläge: Populär ist etwa ein E-Mail-freier Tag pro Woche. Andere Empfehlungen lauten, grundsätzlich keine Nachrichten mehr zu lesen, bei denen man auf Kopie gesetzt wurde oder sein Postfach einmal am Tag komplett zu leeren.

Von diesen Tipps hält Nippa allerdings wenig. "An einem Tag vollständig auf E-Mails zu verzichten, ist willkürlich. Der Lerneffekt, selbst weniger zu schreiben, tritt vermutlich nicht ein." Auf das Lesen bestimmter Nachrichten zu verzichten, sei ebenfalls ein schlechter Rat - schließlich könne ein Mitarbeiter ernste Probleme bekommen, wenn er dadurch eine wichtige Mitteilung verpasst.

Max.Mustermann@firma.de

Nippa rät Unternehmen vielmehr, Mitarbeiter gezielt im Umgang mit E-Mails zu schulen: "Die Leute müssen lernen, wie man einen Betreff formuliert und wann sie jemanden auf CC setzen." Gerade hier helfe es, den Mitarbeitern mehr Autonomie zu geben. "Viele Mails, gerade an die Vorgesetzten, werden aus Unsicherheit geschrieben. Die Mitarbeiter wollen sich absichern."

Einen ganz praktischen Rat hat der Professor auch: keine personalisierten E-Mail-Adressen mehr. Statt Max.Mustermann@firma.de solle es also nur noch Accounts wie abteilung@firma.de geben - auf die dann auch das komplette Team zugreifen dürfe. "Das hat einen großen Vorteil: Man reduziert die privaten E-Mails drastisch." Deren Anteil schätzt der Ökonom auf 30 Prozent - ein großer Teil des E-Mail-Stresses ist also von den Mitarbeitern selbst verursacht.

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