Stress im Beruf:"Wir alle unterwerfen uns der E-Mail"

Lesezeit: 3 min

Hektik im Job macht krank. Multitasking aber auch, sagt Ulrike Roth. Die Ärztin über den Zwang zur Gleichzeitigkeit - und warum er gefährlich ist.

Jacky Guttmann

Angst vor Arbeitslosigkeit, ein immer härterer Wettbewerb und stetig wachsende Anforderungen bringen Arbeitnehmer an die Grenzen ihrer Kräfte. Lange Zeit wurde Multitasking als die Wunderwaffe für mehr Effektivität im Job angepriesen. Es sollte den Schlüssel zum entspannteren Arbeitsleben bedeuten. Die Arbeitsmedizinerin Dr. Ulrike Roth vom TÜV Rheinland warnt eindrücklich vor den möglichen Folgen des Multitasking.

Dr. Ulrike Roth: "Ständiger Zeitdruck und hohe Anforderungen verursachen Stress für Körper und Geist." (Foto: Foto: oH)

sueddeutsche.de: Was versteht man unter dem Begriff Multitasking?

Ulrike Roth: Multitasking ist der Versuch, mehrere Sachen gleichzeitig zu machen. Ich sage aber bewusst Versuch, denn letztlich bearbeitet man die Aufgaben doch nacheinander. Eine wirkliche Gleichzeitigkeit bei konstantem Qualitätsniveau existiert nicht. Wissenschaftliche Tests haben gezeigt, dass beim Erledigen mehrerer, nicht zusammenhängender Tätigkeiten zur gleichen Zeit mindestens eine immer leidet. Je kürzer die Abstände zwischen den Tätigkeiten sind, desto höher ist die Fehlerquote.

sueddeutsche.de: Und das größere Multitaskingtalent von Frauen ...

Roth: ... ist leider auch nur ein Mythos. Obwohl dieser Glaube weit verbreitet ist, konnten Experimente nicht beweisen, dass die Hirnaktivitäten von Frauen dabei intensiver sind als die von Männern.

sueddeutsche.de: Sie warnen vor Multitasking. Warum?

Roth: Ein Motor, der durchgängig mit Vollgas läuft, geht durch die Belastung kaputt. Ähnlich ist das auch bei Menschen, die ständig unter Stress stehen. Der Geist kann all die vielen Informationen nicht mehr verarbeiten und so schleichen sich Fehler ein. Das Gehirn gelangt an seine Grenzen. Eine Art Schutzmechanismus bewahrt wichtige Informationen und lässt zusätzliche Botschaften abprallen, so dass sie gar nicht erst gespeichert und sofort vergessen werden. Das kann letztlich auch körperliche Folgen haben.

sueddeutsche.de: Welche?

Roth: Ständige Unterbrechungen, Störungen und immer neue Verpflichtungen sind ebenso Auslöser für Stress wie der Papierberg im Augenwinkel, den man bis zum Abend noch abgearbeitet haben muss. Durch die Überbelastung des Gehirns sinken die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Darüber hinaus können Unruhe und Versagensgefühle zu regelrechten Angstzuständen führen. Bluthochdruck, Kopfschmerzen und Schlafstörungen sind daneben die häufigsten Warnsignale. Im Extremfall droht durch die Multitaskingfalle sogar ein dem Burn-Out ähnliches Phänomen, das als "Attention Deficite Trait" bezeichnet wird. Diese Konzentrationsschwäche ist die Konsequenz des allgegenwärtigen Informationsüberflusses in unserer Gesellschaft.

sueddeutsche.de: Wie viele Aufgaben kann man gleichzeitig bewältigen, ohne das zu riskieren?

Roth: Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Art der Aufgabe und wie fit und gesund eine Person ist. Einfache alltägliche Aufgaben bereiten normalerweise keine Probleme, diese treten nur bei komplexeren theoretischen Sachverhalten auf. Wichtig ist, dass man nicht im Halbminutentakt von Aufgabe zu Aufgabe wechselt, sondern dem Gehirn einige Momente zum Umschalten gewährt.

sueddeutsche.de: Warum glauben wir trotzdem, wir seien durch Multitasking besser?

Roth: Die meisten denken, dass sie ihre Aufgaben im Verhältnis zum Arbeitspensum richtig gut bewältigt hätten. Die Fehler, die einem dabei unterlaufen, fallen meistens erst später auf. Man unterliegt einer falschen Selbsteinschätzung, die auch die körperlichen Symptome zunächst verklärt.

sueddeutsche.de: Ist es für das Gehirn nicht viel eher anstrengend, sich über einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu fokussieren, als zwischendurch etwas anderes zu tun?

Roth: Es schadet dem Hirn prinzipiell nicht, sich zwischendurch anderen Aufgaben zuzuwenden. Allerdings kennt fast jeder das Problem dabei: Lässt man sich von einer neuen Materie ablenken, zum Beispiel einem Telefonat oder einer E-Mail, so muss man sich danach wieder komplett neu in die alte Tätigkeit einarbeiten und eindenken. Man macht es sich oft leichter, wenn man einen Themenbereich abschließt, bevor man sich dem nächsten zuwendet.

sueddeutsche.de: Es heißt doch, man lerne effektiver, wenn mehrere Bereiche des Gehirns zusammen arbeiten. Wieso ist das beim Multitasking anders?

Roth: Beim Lernen neuer Sprachen oder Daten etwa ist die Verknüpfung von Sprach-, Schreib, und Sehzentren im Hirn hilfreich. Dies ist aber nur der Fall, solange es sich um ein einziges Thema handelt; sind es mehrere, wie das Sprechen beim Telefonieren und das gleichzeitige Schreiben einer E-Mail, ist das dagegen eher hinderlich.

sueddeutsche: Wie dämmt man die Risiken ein?

Roth: Besonders in Stresssituationen ist es wichtig, Prioritäten zu setzen. Wir alle machen uns doch sklavisch abhängig von Telefon oder Blackberry und unterwerfen uns der E-Mail. Man muss nicht jederzeit erreichbar sein, sondern sollte einfache Kommunikationsregeln für sich und vor allem für andere aufstellen. Es bringt nichts, ständig seine E-Mails abzurufen und sich damit selbst dem Druck einer sofortigen Antwort - und damit der Unterbrechung der aktuellen Aufgabe - auszusetzen. Idealerweise besitzt man beruflich und privat strikt voneinander getrennte Rufnummern und E-Mailanschlüsse. So kann man nach Feierabend wirklich abschalten, statt um 22 Uhr noch geschäftliche Anfragen zu bearbeiten. Während der Arbeitszeit sollte man außerdem nicht mehr als drei Mal tägliche "E-Mail- Sprechstunden" einrichten und bei wirklich wichtigen Angelegenheiten lieber kurz zum Telefon greifen.

sueddeutsche.de: Was tun Sie, wenn das Telefon klingelt, das Blackberry piepst, der Chef mit fragenden Blicken in der Tür steht und die Präsentation des neuen Projektes in einer halben Stunde ansteht?

Roth: Ich frage mich, was in diesem Augenblick am wichtigsten ist. Das Blackberry und die E-Mails können erst mal warten, ebenso wie das Telefon. Mit dem Chef spreche ich mich möglichst kurz ab, ob es reicht, mich in einer halben Stunde mit ihm in Verbindung zu setzen, um bis dahin die dringliche Präsentation zu beenden. Bei besonders wichtigen Angelegenheiten leite ich das Telefon auf die Sekretärin oder die Mailbox um, und hänge vielleicht sogar ein "Bitte nicht stören"-Schild an die Tür, um ungestört arbeiten zu können. Dadurch übersteht man den Tag - auch ohne Multitasking - stressfrei.

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