Sonderschulen:Bei den Schwächsten wird gespart

Lesezeit: 4 min

Kinder, die in eine Sonderschule abrutschen, haben ihre Zukunft oft schon verloren - die Politik kümmert das nicht.

Birgit Taffertshofer

Politiker reden gerne über Bildung. Das Thema steht für Zukunft, es transportiert Wärme und Weitblick. "Jedes einzelne Kind muss optimal gefördert werden", sagt Jürgen Zöllner, Präsident der Kultusministerkonferenz. Und dies dürfte auch im föderalen Deutschland Konsens aller Sonntagsredner sein.

Fast jeder 20. Schüler besucht eine Sonderschule. (Foto: Foto: picture-alliance)

Wie weit die Schulen von dieser Zielvorgabe entfernt sind, zeigt sich in der Kolkrabenschule, einer von 33 Sonderschulen in Köln. In dem grauen Flachbau am Westfriedhof lernen Kinder, die als lernbehindert gelten. Hier sitzen die Armen, die Vernachlässigten, die Aggressiven, die Migranten. Wohlgemerkt: Die Förderschule am Kolkrabenweg gehört zu den besten in Nordrhein-Westfalen. Trotzdem schafft nur jedes dritte der 240 Kinder einen Schulabschluss.

Schulleiterin Christiane Vogt hat miterlebt, wie sich das Klima in der Gesellschaft geändert hat, in der nur noch Wissen zählt. Wie der Druck wuchs, Störer und Langsamlerner möglichst schnell abzuschieben. Wie die Probleme vieler Schüler zunahmen, weil deren Eltern mit dem Leben überfordert sind. Und wie der Staat gerade bei den Schwächsten sparte und weiter spart.

Eine echte Ganztagsschule will die CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen den Förderschülern nur selten finanzieren. "Zu teuer, heißt es", sagt Vogt. Dabei bräuchten gerade ihre Schüler mehr Erziehung und mehr Zeit zum Lernen.

Politik der Absonderung

Die Sonderschule bleibt eine vergessen Schule, auch wenn momentan so viele über gerechte Bildungschancen reden. Selbst die Pisa-Studien haben Sonderschüler kaum berücksichtigt. Doch deren Zahl wächst.

In Deutschland besucht mittlerweile fast jeder zwanzigste Schüler eine Sonderschule. Im Jahr 2003 waren es laut Statistik der Kultusministerkonferenz 430.000 Kinder, zehn Prozent mehr als noch Mitte der neunziger Jahre. 85 Prozent der Schüler, die nach der offiziellen Definition im Regelunterricht "nicht oder nicht ausreichend" gefördert werden können, lernen unter Kindern mit ähnlichen Schwierigkeiten. Die Hälfte von ihnen besucht eine Förderschule für Lernbehinderte.

In manchen Bundesländern gibt es zehn verschiedene Arten von Sonderschulen. Eine Schulform, die es im Ausland oft gar nicht gibt. Vernor Muñoz, UN-Inspektor für das Recht auf Bildung, attestierte Deutschland deshalb eine "Politik der Absonderung". Die Kultusminister hielten dem Costa-Ricaner anschließend vor, er habe keine Ahnung vom deutschen Bildungswesen.

Doch mit seiner Kritik an der Sonderschule steht Muñoz keineswegs alleine da. Auch deutsche Experten für Sonderpädagogik fordern, diese Schulart abzuschaffen. Und selbst Franz Rumpler, Vorsitzender des Interessenverbandes für Sonderpädagogen, würde seine Schule am liebsten zusperren. "Wenn die Regelschule einen guten Unterricht bietet", sagt er, "sind Förderschulen überflüssig".

Die Politiker machen allerdings wenig Hoffnung. Selbst in Bundesländern wie Hamburg, wo die Schulstruktur von Grund auf reformiert wird, bleiben die Sonderschüler im Abseits. Neben dem "Zwei-Säulen-Modell" aus Gymnasien und Stadtteilschulen wird es dort weiterhin den Sonderschulbereich geben.

Zwar tüfteln viele Kultusministerien an einer Lösung, wie man den Unterricht effektiver machen kann, aber von einer Auflösung der Förderschule wagt bisher nur die Opposition zu sprechen. Vor allem die konservativen Landesregierungen setzen lieber darauf, die Grenzen zwischen den verschiedenen Schularten durchlässiger zu machen. Kindern, die in die Förderschule abgesackt sind, soll der Weg zurück nicht versperrt bleiben.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum die Ängste von Eltern oft unbegründet sind.

Von solchen Rettungsaktionen hält Hans Wocken nichts. Der Hamburger Professor ist einer der wenigen Bildungsforscher, der Sonderschulen untersucht hat - mit negativem Ergebnis: Je länger ein Kind dort bleiben muss, desto dümmer werde es. Wocken macht den Lehrern keinen Vorwurf. Schuld sei das "anregungsarme Lernmilieu".

So werden die Schüler doppelt benachteiligt: Sie erhalten oft schon zu Hause wenig Anstöße; mit ihresgleichen in einer Schule aber wollen sie alles - bloß nicht lernen. Die Folge: Die Lehrer schrauben die Anforderungen immer weiter nach unten. "Das ist angenehm für die Kinder, aber wenn man nicht fordert, dann fördert man nicht", sagt Wocken.

Die Realität holt die jungen Menschen nach der Schulzeit ein: Bundesweit bleiben 80 Prozent aller Sonderschüler ohne Schulabschluss. Viele finden keine Arbeit, fühlen sich stigmatisiert und ein weiteres Mal von der Gesellschaft ausgeschlossen. Für Wocken gibt es nur eine Lösung: Die Förderschüler müssen in die Regelschule integriert werden. Zumindest bis zum Ende der sechsten Klasse sollten alle, gesunde und behinderte Kinder, in einer Schule unterrichtet werden, fordert er. Dort sollte jedes Kind nach seinen Fähigkeiten lernen, in der Gemeinschaft, in Kleingruppen oder eben in der Einzelförderung mit Psychologen, Ergotherapeuten oder Sozialarbeitern. Andere Länder machten dies längst vor.

Wocken weiß, dass solche Forderungen bei vielen Politikern und Pädagogen alte Reflexe auslösen: Die schlechten Schüler würden die guten mit nach unten ziehen. Für den Forscher ist dies nur ein Scheinargument, mit dem Ängste der Eltern geschürt würden, das sich aber durch seriöse Studien nicht belegen lasse.

Angst vor Störern

Mit oft unbegründeten Ängsten von Eltern kämpfen Grundschullehrer schon heute. "Alle wollen nur das Beste für ihr Kind", erzählt eine Lehrerin aus München. Ein Mitschüler mit Konzentrationsschwierigkeiten werde da schnell zur Bedrohung für das Fortkommen des eigenen Sprösslings stilisiert. Sie habe schon Elternversammlungen erlebt, in denen es plötzlich nur noch darum ging, wann "der Störer" endlich wegkomme.

Franz Rumpler kennt solche Szenarien von seinen Gesprächen als Schulberater. Manchmal seien es aber auch die Lehrer selbst, die schwierige Schüler loswerden wollten. Sicher habe er Verständnis für Kollegen, die ganz alleine mit mehr als 20 Schülern in einer Klasse fertig werden müssten. Aber zuweilen wüssten die Lehrer auch erschreckend wenig über Methoden, wie sich problematische Schüler integrieren ließen.

Um zu verhindern, dass immer mehr Schüler in die vergleichsweise teure Sonderschule überwiesen werden, hat Bayern vor einiger Zeit einen Riegel vorgeschoben. Förderschulen dürfen seitdem keine zusätzlichen Klassen mehr bilden. Doch Rumpler stellt einen fatalen Nebeneffekt fest: Immer öfter würden nun "verdächtige Kinder" schon vorsorglich auf die Sonderschule geschickt. Denn bereits nach der zweiten Schulkasse steige das Risiko, dass alle Plätze ausgebucht sind. Die Leidtragenden seien stets die Kinder.

(SZ vom 24.9.2007)

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: