Schulphobie:Wenn die Angst überwiegt

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Panik vor dem Unterricht hat viel mit zerrütteten Elternhäusern, aber wenig mit Leistungsdruck zu tun.

Cathrin Kahlweit

André war schon immer ein ängstliches Kind. Als seine Eltern sich trennten, verstärkte sich seine Furcht, aus dem Haus zu gehen, Freunde zu treffen.

Mit 13 begann er, Schule zu schwänzen - erst die eine oder andere Stunde, dann mal einen ganzen Vormittag.

Seine Mutter verbuchte den Widerwillen ihres Kindes gegen Unterricht und Lernen unter "pubertäre Probleme". Mit 14 weigerte sich der hübsche und durchaus intelligente Junge vollends, das Gymnasium zu betreten.

Seine Mutter schickte ihn auf eine Privatschule, weil sie an Mobbing glaubte. André aber bekam auf dem Schulweg Bauch- oder Kopfschmerzen, einige Male wurde er vor dem Klassenzimmer ohnmächtig.

Immer häufiger stieg er morgens auf dem Schulweg aus der S-Bahn, saß stundenlang auf dem Bahnsteig. Irgendwann begann er, mit Suizid zu drohen. Seine Mutter kapitulierte, André hockte monatelang daheim im abgedunkelten Zimmer.

Heute ist der junge Mann 20. Er hat keinen Schulabschluss, aber das Glück, einen Lehrherren gefunden zu haben, der ihn trotzdem ausbildet und Verständnis hat für seine Schulphobie. Das nämlich war es, was Psychiater schließlich diagnostizierten.

Schulphobie hat nur wenig mit der Schule, aber viel mit Problemen innerhalb der Familie zu tun. Kinderpsychiater rubrizieren sie unter "Trennungsangst"; Kinder reagieren auf den Schulbesuch mit psychosomatischen Beschwerden, weil sie am Elternhaus, nicht aber an der Schule leiden, sagt Dieter Becker-Heinen, der die Ambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kassel leitet.

Immer mehr Kinder lebten in einer "Broken-home-Situation", allein mit einem Elternteil, bisweilen in zerrütteten Verhältnissen. Sie reagierten auf den Verlust emotionaler Sicherheit mit Schulverweigerung.

Zwischen zwei und fünf Prozent aller Schulkinder weisen diese seelische Erkrankung auf, stellt Gerd Lehmkuhl, Direktor der Klinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Köln fest.

Lehmkuhl behandelt Dutzende solcher Fälle im Jahr, 56 Plätze hat seine Klinik, und immer warten etwa 20 Kinder auf eine stationäre Aufnahme. Bei Lehmkuhl lernen sie, die Trennung vom Elternhaus zu ertragen - und sie lernen in einer krankenhauseigenen Schule, die Klassengemeinschaft, Unterricht, Gruppensituationen auszuhalten.

Die 15. Shell-Studie, die am Donnerstag veröffentlicht wurde, verweist auf die wachsende Zahl überforderter Elternhäuser und seelisch belasteter Jugendlicher; beide Gruppen schätzt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann auf etwa 15 Prozent.

Er zählt dazu durchaus nicht nur bildungs- oder sozial schwache Haushalte, sondern ebenso Familien, welche die "notwendige Mischung aus liebevoller Zuwendung und notwendiger Distanz" nicht aufbrächten.

Eben hier finden sich auch häufig Kinder mit einer Schulphobie: Überbehütende Eltern, die ihre Kinder nicht zum Schulbesuch zwängen, sondern auf deren psychosomatische Beschwerden mit Mitleid und Entschuldigungsbriefen an die Schule reagierten, trügen im Zweifel dazu bei, sagt Psychiater Gerd Lehmkuhl, dass aus einem Kind mit Trennungsangst ein chronischer Fall werde.

Die Folge einer verweigerten oder verpassten Schulkarriere seien dann Jugendliche ohne Abschluss, die nur schwer den Weg zurück ins Leben fänden.

© SZ vom 22.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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