Schule:Spielen, wenn es ernst wird

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In München helfen Spezialisten, wenn Lehrer mit Konflikten in der Schule nicht mehr fertig werden.

Von Harald Hordych

München, 12. Mai - Sie sind fast noch Kinder, aber kinderleicht ist nichts mehr. Schon gar nicht dieses Spiel, das von den Möglichkeiten handelt, die einer Gruppe von Menschen offen stehen, und die sie, wie die Stöcke, die jetzt nicht umfallen dürfen, selbst in der Hand haben. Damit sie das verstehen, muss nur jemand kommen wie Werner Egger, jemand, der jedem von ihnen einen Stock in die Hand drückt und ruft: Haaaad-da!

Dann machen die 25 Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a der Hauptschule an der Schleißheimer Straße in München einen Schritt nach rechts. Jeder lässt nun seinen Stock los und ergreift den Stock des Nebenmannes. Die Stöcke sollen stehen bleiben, mehr nicht. Es soll eine gemeinsame Bewegung entstehen, ein einziges gemeinsames Zupacken. So könnte man seine Zukunft in die Hand nehmen.

Aber es klappt nicht. Das Scheitern hat den böse scheppernden Klang auf den Boden fallender Besenstiele.

Mitten in diesem Kreis steht Ilselore Hergel, die Klassenlehrerin. Aber selbst, als die Stöcke zum zehnten Mal hinfallen, dringt keine Ermahnung über ihre Lippen. Die zierliche Frau mit den ergrauenden Haaren hat sich zurückgezogen. Sie hat ihre Klasse anderen überlassen, Schulsozialarbeitern wie Werner Egger oder Jutta Nicolai und Lehrern wie Olaf Ströbel, die eine Zusatz-Ausbildung als Schulkonfliktberater absolviert haben. Hinter dem Wort verbirgt sich etwas, das in der Welt der Lehrer einer kleinen Revolution gleichkommt: Der Einzelkämpfer Lehrer lässt sich plötzlich in seinem geschlossenen Machtbereich von einer Art Konflikt-Feuerwehr helfen.

In München tun das Lehrer immer häufiger. Wenn die Klasse ihnen nicht mehr zuhört. Wenn die permanenten Störungen und der nie abschwellende Lärmpegel einen Unterricht, der das Wort verdient, nicht mehr zulassen, Mobbing und Gewalt das Klima der Gemeinschaft vergiften. Wo heute eben die Probleme liegen an deutschen Schulen, zumal an so genannten Brennpunktschulen. So vielfältig die Ursachen auch sein mögen - allzu häufig sind "ausstrahlende Konflikte" der Grund für die Blockade des Unterrichts, wie es Sozialpädagogen ausdrücken. Was man sich in der Klasse 9a der Hauptschule im Münchner Stadtteil Milbertshofen mit seinem Ausländeranteil von 65 Prozent unter diesem Ausdruck vorzustellen hat, begreift man, je länger das Spiel "Hadda Budda" dauert.

Da hinten in der Ecke

Scheppernd und krachend fallen die Stöcke auf den Linoleumboden. Bis Werner Egger, ein kräftiger Mann mit Bürstenhaarschnitt und Oberarmen wie ein Ringer, die Hände hebt und fragt: "Könnt ihr mir sagen, was wir machen können, damit das endlich klappt?"- "Lösen Sie doch mal die Ecke da hinten auf, da fallen doch immer die Stöcke hin", sagt ein blondes Mädchen sofort und zeigt auf eine Gruppe von Jungen, die in einer Reihe nebeneinander stehen. Dort liegen jetzt wieder die meisten Stöcke, die jungen Männer tragen Freizeitjacken, Pullover, Lederjacken, alle haben sie dunkles Haar, und der eine oder andere trägt schon einen flaumigen Bart. Wenn die Stöcke fallen und jemand laut darüber lacht, dann dort in der Gruppe.

"Die Ecke auflösen, meinst du, das hilft?", wiederholt Egger, ein bisschen lauernd. Und da meldet sich schon einer zu Wort, den wir hier Enver nennen, weil die Namen der Schüler nicht öffentlich werden dürfen. Enver sieht gut aus, wie ein Popstar. Einer, der keine Schnulzen singt, sondern Songs aus dem richtigen Leben. Trotzdem antwortet er jetzt gar nicht cool, sondern aufgebracht wirkt er, innerlich aufgewühlt: "Auf keinen Fall, warum sollen wir schuld sein, wenn es nicht klappt?", ruft er. "Die Gruppe auflösen, das bringt nichts!"

Die Jungen, die neben ihm stehen, wirken jetzt wie Anhänger der neu gegründeten Enver-Partei, so aufmerksam lauschen sie ihm. Es spricht: der Vorsitzende. Manchmal ist Envers Deutsch holprig, und er muss lange nach Worten suchen. Diesmal hilft ihm die aufsteigende Wut. Hastig erklärt er, wie man den Stock halten muss, damit sich die Hände beim Weiterrücken nicht immer in die Quere kommen. Hier oben!, sagt Enver. Hier oben müsst ihr den Stock anfassen. Sie versuchen es noch einmal, "Haaad-da!", ruft Egger mit seiner durchdringenden, knarrenden Stimme, Hadda, sie gehen nach rechts, und: Budda! Sie gehen nach links, und endlich: Es klappt. Die Stöcke bleiben stehen, alle, wenn der große Kreis einen Schritt weitergeht.

Wenn doch alles so einfach wäre. Aber "Hadda Budda" ist keine Zauberformel. Vor allem ist es ein Spiel zum Lockerwerden , aber es ist auch ein verblüffend gut funktionierender Indikator dafür, wo das Problem der Klasse 9a der Hauptschule an der Schleißheimer Straße liegt, nämlich in jener Ecke, in der immer die Stöcke umgefallen sind. Dort, wo die stärkste Gruppe der Klasse stand.

Null-Bock-Klassen

Im Unterricht führte das dazu, dass "das Klima in der Klasse nicht mehr stimmte", sagt Ilselore Hergel, die Lehrerin, die auch die Konrektorin der Schule ist. Sie spürte eine wachsende Lern-Unlust. Der Grund dafür war ihrer Meinung nach, dass eine Gruppe von Jungen sich abkapselte hatte, die anderen fühlten sich ausgeschlossen. "Gruppenarbeit ging nicht mehr, nur noch sturer Frontalunterricht", erzählt Ilselore Hergel. Ausgerechnet in den letzten Monaten vor den Prüfungen für den qualifizierten Hauptschulabschluss stellte die Lehrerin fest, dass viele Schüler unter ihren Möglichkeiten zu bleiben drohten. "Ich fühlte mich in meiner Arbeit behindert."

Damit steht sie nicht allein. Die Sozialarbeiter und Lehrer, die sich an einem wolkenverhangenen Tag in der Bibliothek der Berufsschule für Gesundheitsberufe im Münchner Stadtteil Haidhausen treffen, haben diesen Satz schon oft gehört. So oder ähnlich wenden sich immer häufiger Kollegen an die acht Frauen und Männer, die nach ihrer einjährigen Ausbildung zum Schulkonfliktberater in regelmäßigen Treffen mit ihrer Ausbildungsleiterin, der Sozialpädagogin Dagmar Cordes, gegenseitig Hilfestellung bei ihren Fällen geben. Da sind die zwei Mädchen, die sich so oft miteinander prügeln, dass die gesamte Klasse in zwei Parteien aufgespalten ist. Da ist die Klasse, die während des Unterrichts Zeitung liest, Telefonate führt, Schafkopf spielt. Und da sind die, die aufgehört haben, am Unterricht teilzunehmen: Null-Bock-Klassen nennt Dagmar Cordes sie.

Die Pädagogen-Gruppe gerät in eine Diskussion, ob man solche Schüler überhaupt erreichen kann. "Sie haben einfach keine Lust zu lernen", sagt Christian Dünhuber. "Weil die meisten keine Lust haben, Fleischereifachverkäuferin zu werden, und andere Pläne haben." Unerfüllbare. "Sie denken, sie seien nichts wert." Einen Augenblick schweigt die Gruppe, ratlos. "Das ist nicht euer Problem" sagt Dagmar Cordes entschieden. "Ihr seid nicht die Sozialarbeiter der Nation." Die Frau, die das sagt, hat lange im Jugendstrafvollzug gearbeitet, hat dort Täter und Opfer zusammengeführt, ehe sie 1994 im Auftrag der Stadt München das Konzept für Konfliktbehandlung an Schulen entwickelte - und selbst anwandte. Seit fünf Jahren bildet Cordes für den Verein "Brücke München", der im Auftrag der Stadt München die Behandlung von Schulkonflikten zur Aufgabe gemacht hat, Lehrer und Schulsozialarbeiter zu Konfliktberatern aus.

Nun ist die Vermittlung in Konflikten, von Fachleuten Mediation genannt, schon seit mehr als zehn Jahren an deutschen Schulen gängige Praxis, um der Gewalt vorzubeugen. Überall im Land werden Schüler zu Streitschlichtern ausgebildet. Sie können Gleichaltrigen aber nur im Einzelfall helfen, und sie müssen oft genug von sich aus aktiv werden - was überdies, ein erwünschter Nebeneffekt, ihre eigene Sozialkompetenz erhöht. Konflikten nachzuspüren, die jedoch eine ganze Klasse beeinflussen oder gar das Verhältnis zwischen Lehrer und Klasse betreffen, das ist eine andere Dimension, sagt Erhard Neumann, verantwortlich bei der Brücke München für Konfliktbehandlung an Schulen.

In München kommen die von seiner Organisation geschulten Berater zum Einsatz, wenn plötzlich das Wort von den "schrecklichen Klassen" die Runde macht. Klassen, "in die eigentlich kein Lehrer mehr reingehen will", erklärt Cordes nach der Sitzung. Mittlerweile leistet sich die Stadt München an 48 Brennpunktschulen Schulsozialarbeiter. Das Jugendsozialreferat ist hoch zufrieden mit den Ergebnissen, in den vergangenen Jahren ist die Stellenzahl gegen den Trend stetig gestiegen. Ziel ist es, an jeder Haupt- und Berufsschule mindestens ein Konflikt-Team in die Klassen zu schicken. Was früher undenkbar war, funktioniert in München: Die von Lehrern oft als kaffeetrinkende Psychoheinis belächelten Sozialpädagogen und angeblich nur an ihrem Lehrplan interessierte Lehrer gemeinsam im Einsatz.

Dagmar Cordes hält dieses Modell angesichts der neuen Verhältnisse für die einzig angemessene Reaktion: "Lehrer werden ausgebildet, Inhalte didaktisch zu vermitteln. Auf diese Entwicklung in den Schulen sind sie nicht vorbereitet." Nicht vorbereitet auf eine Vielzahl von Kindern aus sozial belastetenen Familien, die unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionsgemeinschaften angehören. In der Schule treffen sie aufeinander, und es knallt. Umstände, wie sie verstärkt an Haupt- und Berufschulen anzutreffen sind.

Auf dem Boden der Klasse 9a der Hauptschule Schleißheimer Straße liegt ein großes Stück Papier. Der Schulsozialarbeiter Werner Egger hat noch ein Spiel auf Lager. Diesmal präsentiert er kleine Pappmännchen mit runden Köpfen, auf denen die Namen der Schüler stehen. Das große Stück Papier, erklärt er, ist der Raum, in dem sich die Schüler der Klasse 9a aufhalten. Und nun soll jeder sein Pappmännchen an die Stelle legen, von der er glaubt, dort sei sein Platz in der Gemeinschaft. So ein Soziogramm ist wie eine Landkarte der Sehnsüchte und Ängste, ein Spiel, das rasch zu einer bitterernsten Angelegenheit werden kann, wie sich herausstellt.

Als Enver sein Figürchen in die äußerste Ecke legt, eigentlich schon neben das Papier, wird die Randlage zum Zentrum. Sechs andere Männchen drängen sich so dicht bei ihm zusammen, als müssten sie sich gegen ein Unwetter schützen, ihre Namen zeigen an, woher die Schüler kommen: aus der Türkei, Irland, Afghanistan, Italien. Die Pappmännchen mit deutschen Namen liegen verloren übers Papier verstreut. Als dann jeder Schüler ein lachendes oder weinendes Gesicht auf sein Papp-Ego legen muss, wird klar, dass Karsten und Andreas, die ihre Figuren weit weg von der Gruppe der Sieben platziert haben, sich nicht wohl fühlen in dieser Klasse.

Als Egger fragt, warum das so ist, senkt Andreas den Kopf und verknotet die Arme vor der Brust, lang und dünn ist er und schüchtern: "Die da drüben sollen mich in Ruhe lassen", würgt er hervor. Enver und seine Freunde sind empört: "Wir lassen euch doch in Ruhe. Wir brauchen niemanden, wir sind Freunde. Nur das zählt," sagt Herkid, der neben Enver sitzt. Werner Egger steht jetzt hinter Andreas und fragt ihn, wie er das meint: sie sollten ihn in Ruhe lassen. Dann legt er seine Hand auf die Schulter des Jungen. Andreas, wird Egger später erzählen, zittert am ganzen Körper, als er sagt: "Hört auf, mich zu verarschen. Geht nicht grußlos an mir vorbei, als wäre ich Luft für euch." Egger fragt Enver: "Warum ist die Gruppe gegen Andreas?" Enver blickt auf und stößt empört aus: "Was soll ich denn sagen, ganz Deutschland ist gegen mich!" In die Stille hinein murmelt Katrin: "Es ist so schade, dass unser letztes Schuljahr in so einer schlechten Stimmung zu Ende geht." Volltreffer! Mit so einem Satz kann Egger arbeiten, jetzt haben die Schüler ihr Problem selbst benannt.

Andreas Dünhuber, 39 Jahre alt, ist Lehrer an der Berufsschule für das Metzgerhandwerk, und er ist Konfliktberater, einer jener Pädagogen, die sich bei den Treffen mit ihrer Ausbilderin der Brücke München voller Enthusiasmus gegenseitig unterstützen. Dünhuber erzählt von Kindern, deren Eltern zu Hause nicht mehr miteinander reden, weil in jedem Zimmer ein Fernseher läuft. Kindern, für die jede Meinungsverschiedenheit ein Streit ist. Sie haben keine Regeln und kein Instrumentarium, sich ohne Gewalt auseinanderzusetzen. Konflikttraining ist für ihn auch Nachhilfe in den Grundfächern Kommunikationsfähigkeit, Flexibilität, Teamfähigkeit. Das, was Arbeitgeber heutzutage voraussetzen.

Dünhuber, schlank und sportlich, sprüht nur so vor Tatendrang. Wie er da entspannt in einem Münchner Szenecafé sitzt, wirkt er wie jemand, der sich durch nichts aufhalten lässt. Er ist offenbar beseelt von seinem Beruf als Lehrer. Und ausgerechnet einer wie er soll besonders burn-out-gefährdet sein? Ein Lehrer lebt davon, dass seine Schüler sich wohl fühlen, sagt Dünhuber. Und dass sie etwas lernen, etwas mitnehmen wollen. "Ein Lehrer ist abhängig davon, ob etwas zurückkommt. Ignoranz ist immer eine Bestrafung für den Lehrer."

Permanent erschöpft

Gerade Lehrer, die viel erreichen wollen in ihrem Beruf, entwickeln leicht ein "chronisches Vergeblichkeitsgefühl", sagt Joachim Bauer, Professor an der Abteilung für psychosomatische Medizin an der Uniklinik in Freiburg. Aus der Perspektive des Lehrers klingt das ungefähr so: Was ich hier tue, macht keinen Sinn mehr. Ich erreiche meine Schüler nicht. Bauer hat untersucht, was Lehrer an Gymnasien krank werden lässt: Burn-out - die permanente Erschöpfung, die Depressivität und Angstzustände nach sich zieht. Und körperliche Beschwerden, für die es keine "organischen Befund" gibt: das Leiden aus dem Nichts, Schwindelgefühle, Herzrasen, chronische Schmerzen. 33 Prozent von 400 befragten Gymnasiallehrern in Südbaden erfüllten die Kriterien für das Burn-Out-Syndrom.

Bauer nennt das Grundproblem: "Das Arbeitsfeld des Lehrers ist fast vollständig Beziehungsarbeit. Wissen ist kein Ordner, das man in einen Schüler hineinstellt." Wissensvermittlung gelingt nur über die Infusionsleitung der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Als größten Belastungsfaktor nannten die befragten Lehrer: zu große Klassen und destruktives Schülerverhalten. Um da die Beziehungen zu verbessern, hält Professor Bauer neben anderen Faktoren vor allem einen Punkt für entscheidend: Lehrer müssen sich gegenseitig mehr unterstützen. Der Einzelkämpfer Lehrer muss sich im Team den neuen Herausforderungen stellen und mit übermäßigem Konkurrenzdenken Schluss machen, fordert der Hochschullehrer.

Noch immer haben viele Lehrer nicht begriffen, dass eine schwierige Klasse nicht "das Versagen des Lehrers ist", sagt auch die Münchner Konflikt-Expertin Dagmar Cordes. Noch immer herrsche in vielen Kollegien die Meinung vor, jeder Lehrer müsse allein "seine Klasse im Griff haben". Eine Veränderung wird aber erst möglich, wenn der Lehrer sich eingesteht, dass etwas nicht stimmt.

An der Hauptschule an der Schleißheimer Straße sind Enver und Andreas nach dem Projekttag keine Freunde geworden. Die Clique ist immer noch die Clique, und die anderen sind eben die anderen, die nicht dazugehören. "Aber", sagt die Lehrerin Ilselore Hergel zwei Monate später, "endlich haben sie Worte für das gefunden, was sie bedrückt." Den Schülern fällt jetzt auf, hat sie beobachtet, dass die Stärke der Clique nur ihre Zusammengehörigkeit ist. "Sie sind nicht stark aufgrund ihrer schulischen Leistungen, im Gegenteil, deshalb brauchen sie die Gruppe." Das Klima ist deutlich besser geworden. Gruppenarbeit ist wieder möglich. Und die Klasse bleibt freitags eine Stunde länger, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Freiwillig. Und gemeinsam.

© SZ vom 13.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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