Medizinstudium:Verlust der Moral

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Im Medizin-Hörsaal verkümmert die Moral. Die Studenten verlieren während ihrer Ausbildung ihre Urteilskraft. Schuld seien die verschulten Lernstrukturen, behauptet eine Psychologin.

Frank van Bebber

Ob bei Sterbehilfe, Wiederbelebung oder Transplantation: Ärzte müssen wie kaum eine andere Berufsgruppe neben fachlichen auch moralische Fragen beantworten. Doch das Studium bereitet sie darauf nicht vor - im Gegenteil: Gerade im Medizin-Hörsaal verkümmert die Fähigkeit, moralische Argumente zu wägen. Dies jedenfalls ist das Resultat einer Studie der Universität Konstanz. "Moralische Urteilsfähigkeit kommt nicht von allein", sagt die Psychologin Marcia Schillinger. Sie hat 1149 Studenten verschiedener Fächer in Deutschland und Brasilien befragt.

Weil sie viel pauken müssen, aber wenig Gelegenheit haben, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen, verlieren Medizinstudenten ihre moralische Urteilsfähigkeit. (Foto: Foto: dpa)

Die Ergebnisse zerstören die Hoffnung, die Moral angehender Akademiker reife mit dem Alter von selbst. Stattdessen belegt die Studie einen Zusammenhang mit der Lernumwelt. Moralischen Fragen ist demnach weniger gewachsen, wer nur zuhört und auswendig lernt. Wer dagegen im Studium aktiv wird, trainiert seine Moral.

Bei der Sterbehilfe zum Beispiel gebe es keine eindeutige Antwort, sagt Schillinger. Es komme darauf an, Argumente abzuwägen. Um die moralische Urteilskraft zu messen, verwendete Schillinger einen vom Konstanzer Moralpsychologen Georg Lind entwickelten Test. Dieser konfrontiert Studenten mit Dilemma-Situationen. Der Vergleich mit dem entfernten Brasilien ermöglicht die Kontrolle der Methodik. Schillinger hat 531 Studenten von fünf Unis in Deutschland und der Schweiz befragt, unter ihnen 304 angehende Ärzte, aber auch künftige Psychologen und Ökonomen.

Auf einer Skala für moralische Urteilsfähigkeit verbessern sich Wirtschafts- und Psychologie-Studenten im Verlauf des Studiums, doch künftige Mediziner rutschen ab. Fragen zur Lernumwelt ergaben relevante Zusammenhänge. Lind, der die als Doktorarbeit veröffentlichte Studie betreute, sagt: "Die Abnahme tritt vor allem bei Studierenden auf, die viel pauken müssen und wenig Gelegenheit haben, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen." Dagegen würden eigene Projekte oder Tutorenjobs die moralische Kompetenz stärken.

Der Medizinische Fakultätentag betont, Ethik sei mittlerweile Pflichtstoff im Studium. Dennoch hält die Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin, die Göttinger Professorin Claudia Wiesemann, die Konstanzer Ergebnisse für glaubwürdig. Oft reduziere sich die Sensibilisierung für ethische Fragen auf wenige Stunden im Studium, klagt Wiesemann.

Moralisches Urteilen müsse laufend trainiert werden, fordert Marcia Schillinger. Standesdünkel bei Medizinern sei jedenfalls fehl am Platze. Der Besuch eines zulassungsbeschränkten Studiengangs sei noch längst keine Garantie für hohe moralische Urteilsfähigkeit.

© SZ vom 30.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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