Internet:Bildung von allen

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Tausende Internet-Nutzer verfassen zusammen ein riesiges Nachschlagewerk.

Von Erik Möller

"Die Artikel sind von sehr unterschiedlichem Wert", so ist in der "Encyclopaedia Britannica", dem prestigeträchtigsten Lexikon in englischer Sprache, über ein Konkurrenzprodukt zu lesen. "Zu jedem Thema gibt es einige hervorragende Artikel, andere jedoch sind minderwertig oder fehlen gänzlich, und oft finden sich Verweise auf Artikel, die gar nicht existieren." Das Zitat stammt von 1911 und bezieht sich auf die von Denis Diderot herausgegebene "Encyclopédie".

Ebenso gut ließe es sich auf die Website Wikipedia anwenden. Tausende Freiwillige aus aller Welt schreiben dort in mehr als 50 Sprachen an einer Gratis-Enzyklopädie. Wikipedia-Pressesprecher Kurt Jansson sieht die Hauptmotivation der freien Mitarbeiter im intelligenten Diskurs - und im Bildungsauftrag. "Volksaufklärung finde ich Klasse!", beschreibt Jansson seinen Antrieb zur unbezahlten Wikipedia-Mitarbeit. Diese sehen sich in der Tradition von Diderot und d'Alembert, den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts.

Die Mission ist, alles menschliche Wissen zusammenzufassen und frei verfügbar zu machen. Der Clou: Auch Dritte dürfen die Texte nach Belieben kopieren und verändern, sofern sie ihre Änderungen frei zur Verfügung stellen - statt Copyright gilt "Copyleft".

Nächstes Ziel: Brockhaus

Wikipedia enthält in englischer Sprache über 60 Millionen Wörter und hat damit gerade die aktuelle Ausgabe der Britannica mit ihren 56 Millionen Wörtern überrundet. Mit 200.000 Artikeln ist die Stichwortzahl sogar doppelt so groß. Damit wurde eines der Hauptziele des Projekts, in die Größenordnung klassischer Nachschlagewerke vorzudringen, nach weniger als drei Jahren erreicht. Die deutsche Ausgabe kommt auf rund 50.000 Artikel.

Das genügt den Wikipedianern nicht. "Irgendwann zwischen 2006 und 2012 ist der Brockhaus fällig", verkündet Kurt Jansson kämpferisch. Brockhaus-Pressesprecher Klaus Holoch gibt sich da gelassen. Er sieht in Wikipedia keine ernsthafte Konkurrenz zu den deutschen Traditionsenzyklopädien: "Man darf das nicht miteinander vergleichen. Sobald Sie sich auf eine Information verlassen müssen, etwa für eine Doktorarbeit, kommen Sie besser zu uns. Jeder Artikel im Brockhaus wird dreimal geprüft."

Wikipedia dagegen hat Vorteile, wenn es um Aktualität geht: Die ausführliche Zusammenfassung des neuesten Harry-Potter-Buches schrieb ein Fan noch am ersten Verkaufstag. Bei aktuellen Ereignissen wie dem Erdbeben im iranischen Bam stehen oft Minuten später Zusammenfassungen auf der Seite. Das geht auch deshalb so schnell, da Wikipedia ein Wiki ist, eine Internetseite also, deren Inhalte von jedem ohne Anmeldung verändert werden dürfen. Zum Bearbeiten wird eine Seite in ein Formular im Browser geladen. Von dort aus kann ein Text sofort geändert und gespeichert werden. Damit kommen Wikis der ursprünglichen Vision des World Wide Web als offene Informationsbörse näher. Auch die ersten, von Internet-Erfinder Tim Berners-Lee entwickelten Browser waren Web-Editoren.

Alles im Protokoll

Um trotz dieser Offenheit Missbrauch zu verhindern, gibt es Schutzvorkehrungen. Jede Änderung wird protokolliert. Bis zur allerersten Version lässt sich die Entwicklung jeder Seite im Detail zurückverfolgen, bei Bedarf lassen sich ältere Entwürfe wiederherstellen. Wer wiederholt die Regeln bricht, landet auf einer schwarzen Liste und darf fortan nicht mehr editieren.

Wikipedia verfügt derzeit nur über einfache Verfahren zur Qualitätssicherung. Auf der Seite "Löschkandidaten" können Besucher Artikel eintragen, die dem Regelwerk widersprechen. Dazu gehören Urheberrechtsverletzungen, persönliche Essays, Wörterbucheinträge und nicht überprüfbare Informationen. Will man eine dort aufgelistete Seite löschen, muss zuvor ein Konsens gefunden werden. Umgekehrt landen Artikel, die als besonders wertvoll eingestuft werden, im Verzeichnis "Kandidaten für exzellente Artikel".

Ein formales Zertifizierungsmodell ist in Arbeit. "Ende dieses Jahres wollen wir eine Version 1.0 haben", sagt Jimmy Wales, der Wikipedia-Gründer. Wales, dessen Firma Bomis.com eine Suchmaschine betreibt und nebenbei Softporno-Bildchen verkauft, lieferte die Anschubfinanzierung für das Projekt. Dieses steht nun unter der Ägide der gemeinnützigen Wikimedia-Stiftung in Florida. Wenn eine ausgewählte Version eines Artikels zertifiziert werden könnte, ließe sich durch Verweise darauf ein stabiler Bereich innerhalb der chaotischen Wiki-Welt schaffen. "Am wichtigsten ist es, dass wir unsere funktionierenden Prozesse nicht zu sehr stören, wenn wir eine Artikel-Zertifizierung einführen", meint Wales. Denn die Offenheit sei immer die größte Stärke des Projekts gewesen.

© SZ vom 29.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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