Hartz IV:"Völlig daneben"

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Klagen ohne Ende: Zehntausende streiten vor Gericht gegen Hartz-IV-Bescheide. Die Richter stöhnen über die Ungereimtheiten der Gesetze.

Die Arbeitsmarktreform Hartz IV hat zu einer Flut von Klagen an den Sozialgerichten in ganz Deutschland geführt. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundessozialgericht (BSG) in Kassel vorgenommene Umfrage unter allen Landessozialgerichten. "Wir haben so etwas noch nie erlebt, dass eine neue Gesetzgebung so einen Klageboom auslöst", sagte BSG-Präsident Matthias von Wulffen am Mittwoch.

Nach Juristenmeinung voll "handwerklicher Fehler": Die Hartz-Reformen. (Foto: Foto: dpa)

Die Umfrage hatte ergeben, dass im Jahr 2005 bei den Sozialgerichten über 70.000 Klagen zu Hartz IV und Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz eingereicht worden sind. Dies bedeute, dass die Sozialgerichte eine Zusatzbelastung von 20 Prozent verkraften müssten, sagte Wulffen. Rund 54.800 Klagen betreffen danach das Sozialgesetzbuch II, welches die Grundsicherung für Arbeitssuchende regelt. 21.000 Klagen beziehen sich auf den Sozialhilfebereich.

Allein die acht Sozialgerichte im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen registrierten rund 15.000 Klagen wegen Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, drei Mal so viel wie erwartet. "Mit einem Anstieg in diesem Ausmaß haben wir nicht gerechnet. Da brennt die Luft", sagte der Präsident des Landessozialgerichts Jürgen Brand am Dienstag in Essen. Um den Ansturm zu bewältigen, verlangte er dringend mehr Richter.

Doch nicht nur in den mit hoher Arbeitslosigkeit kämpfenden Revierstädten ziehen immer mehr Betroffene vor Gericht. Das für Hartz-IV-Fälle im hohen Norden zuständige Sozialgericht in Schleswig sieht sich ebenso von einer Klagewelle überrollt, wie die Kollegen in Bayern. Der Sprecher des bayerischen Landessozialgerichts Rainer Rühling sagte: "Nach Hartz IV sind die Klagen explodiert." Die Präsidentin des niedersächsischen Landessozialgerichts, Monika Paulat, stöhnte erst kürzlich, ihre Landsleute seien im bundesweiten Vergleich "führend bei Klagen" gegen Hartz IV. Die Zahl der Klagen und Eilanträge bei den Sozialgerichten des Landes sei 2005 um fast 30 Prozent auf 32.470 gestiegen.

Am heftigsten umstritten ist überall die Einkommens- und Vermögensanrechnung bei Bedarfsgemeinschaften. Insbesondere die Frage: Liegt eine eheähnliche Gemeinschaft vor oder nicht? Das Bundesverfassungsgericht habe hier mit seiner Entscheidung, ausschlaggebend sei die Bereitschaft der Partner auf die Dauer füreinander einzustehen, leider eine für die Praxis kaum brauchbare Definition gegeben, klagte der Präsident des Essener Landessozialgerichts Jürgen Brand. Und er steht mit seiner Meinung nicht alleine.

Wann ist ein Paar ein Paar?

Für die Gerichte sei es "ganz besonders schwierig und pikant" zwischen einer Wohn- und einer Lebensgemeinschaft zu unterscheiden, sagte auch seine niedersächsische Kollegin Paulat. Die Suche nach der Wahrheit nimmt da oft oft leicht skurrile Züge an. Gibt es einen gemeinsamen Becher für Zahnbürsten. Oder stehen im Kühlschrank getrennte Butterfässchen? Eine sexuelle Beziehung allein reicht jedenfalls nicht, für die Annahme einer Lebensgemeinschaft. "Warum?", fragt Gerichtspräsident Brand rhetorisch. Und gibt selbst die Antwort: "Vielleicht, weil es dann zu einfach wäre."

"Ich halte Hartz IV gar nicht für schlecht, aber es gibt einige handwerkliche Fehler", meint der Präsident des nordrhein-westfälischen Landessozialgerichts. "Völlig daneben" sei etwa die Regelung, dass Eltern nicht zu Unterhaltszahlungen für ihre hilfsbedürftigen Kinder verpflichtet seien, wenn diese aus der elterlichen Wohnung ausziehen und eine eigenen Bedarfsgemeinschaft gründen. "Die Kiddies der Republik haben sich zu zehntausenden oder gar hunderttausenden aufgemacht, eigene Bedarfsgemeinschaften zu gründen und werden vom Staat alimentiert", beschrieb er die Folgen.

Im Zweifel für den Bürger

Manche Mängel des Gesetzes würden voraussichtlich in diesem Jahr vom Gesetzgeber nachgebessert, erwartet Brand. Dennoch werde die Zahl der Hartz-IV-Klagen wohl weiter zunehmen. Denn erst jetzt rollen langsam auch die ersten Klagen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern auf die Sozialgerichte zu, die von ihrer zuständigen Ämtern aufgefordert wurden, sich eine billigere Wohnung zu suchen.

Für eine weitere Klagewelle werden wohl auch der jetzt anlaufende Abgleich der Arbeitslosengeld-Empfänger mit den Personen führen, die bei ihren Banken Zins-Freistellungsaufträge für Kapitalvermögen gestellt hätten, ist der Jurist überzeugt.

Die Erfolgsquote bei den Klagen im Zusammenhang mit Hartz IV liegt in Nordrhein-Westfalen derzeit bei rund einem Drittel und damit ungefähr auf dem Niveau anderer Klagen vor den Sozialgerichten. Doch könne diese Quote in Zukunft zumindest in den Eilverfahren deutlich ansteigen, nachdem das Bundesverfassungsgericht kürzlich die Richter verpflichtet habe, im Zweifel zu Gunsten der Bürger zu entscheiden, meinte Brand.

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