Glücksfall Arbeit:Leben nach dem Schock

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Warum das Seniorenheim Quellenhof eine Frau mit Unfalltrauma eingestellt hat.

Von Christine Demmer

Im Sommer 1999 reiste Familie Trixa mit dem Caravan durch Frankreich. Kurz vor Cherbourg bat Annette Trixa ihren Mann um eine Pause. Während sich Mann und Kinder die Füße vertraten, überquerte die damals 37-Jährige die Landstraße, erklomm eine Böschung und genoss von oben die Aussicht auf Cherbourg im Leuchtfeuer der untergehenden Sonne. Beim Rückweg über die Landstraße wurde Annette Trixa von einem plötzlich heranrasenden Motorrad ergriffen. Es zermalmte ihre Knochen und ihr Gesicht und verwandelte die nächsten drei Jahre in eine Hölle.

"Frau Trixa ist ein enormes Plus für unser Haus", sagt ihre Chefin Heike Euring. (Foto: Foto: SZ)

Schwerst verletzt überlebte sie, doch es blieb das Trauma des aufheulenden Motorrads, der quietschenden Bremsen, der Unabwendbarkeit des Zusammenpralls, des Schmerzes und der Zerstörung. Über Monate und Jahre hinweg wurde der Körper und das Gesicht von Annette Trixa in Fachkliniken und Rehabilitationszentren Stück für Stück rekonstruiert. Mit Hilfe von Psychologen gelang es ihr schließlich auch, den Unfallschock ein Stück weit aufzuarbeiten. Aber wenn Annette Trixa heute, fünf Jahre später, unter Stress gerät, kündigt sich dessen Rückkehr sofort durch einen nicht zu unterdrückenden Juckreiz an. Sie ist psychisch nicht belastbar, hat ihre glatten Gesichtszüge verloren, darf keine schweren Lasten heben und ist zu 50 Prozent schwerbehindert.

"Sie kann froh sein, dass sie lebt", sagten die Nachbarn im hessischen Gelnhausen, wo sie heute mit ihrer Familie zu Hause ist. Kaum jemand fragte, wovon Annette Trixa lebte. Nacheinander vom Krankengeld, vom Arbeitslosengeld, von der Arbeitslosenhilfe. Als Bundesbahner verdient ihr Mann nicht schlecht, aber drei Kinder ernährt man besser mit zwei Gehältern.

Erst 2002, drei Jahre nach dem Frankreich-Urlaub, wurde die gelernte Wirtschaftspflegerin offiziell gesund geschrieben. Doch auf jede Bewerbung folgte wenige Tage später die Absage. "Fünfzig, sechzig Briefe habe ich bestimmt geschrieben", sagt Trixa. "Kein einziges Mal wurde ich eingeladen, mich persönlich vorzustellen." Das tut weh. Doch wer stellt heute schon einen Schwerbehinderten ein, erst recht, wenn er einen Job braucht, der möglichst stressfrei sein soll?

Um schwer behinderte Arbeitnehmer kümmert sich der Integrationsfachdienst. Dem zuständigen Betreuer flatterte zu Jahresbeginn die Akte von Annette Trixa auf den Schreibtisch, und sofort trat er in Aktion. Anruf bei Heike Euring im Seniorenheim Quellenhof in Bad Soden-Salmünster: Er hätte da eine Wirtschaftspflegerin mit Krankenhausausbildung, zwar mit zerschundenen Knochen, aber dafür mit Fachwissen, Köpfchen und Herz für alte Menschen. Ob Frau Euring zufällig jemand brauchen könnte? Natürlich konnte sie. Der Quellenhof konnte schon mehr als einen behinderten Arbeitnehmer brauchen.

"Ich arbeite gern mit Behinderten zusammen", sagt Heike Euring, gelernte Altenpflegerin und zusammen mit ihrem Mann Besitzerin des Heims, in dem 34 Senioren von 25 Mitarbeitern betreut werden. Seit sie selbst einen schweren Autounfall hatte, kann sie sich gut in die Lage der Unfallopfer versetzen. "Die meisten verstehen sich prächtig auf Pflege und Alltagsunterstützung alter Menschen." Vielleicht fühlen die Behinderten, dass sie hier eine echte Aufgabe haben. Vielleicht ziehen die Senioren die Lebenserfahrung der Randständigen dem Dünkel der Jugend vor. Wie auch immer: Annette Trixa kam, sah sich um und blieb.

Seit März arbeitet sie 80 Stunden im Monat im Quellenhof als Alltagsbegleiterin, kauft für die Senioren ein, spielt mit ihnen "Mensch ärgere Dich nicht" oder erinnert an das fällige Geschenk für den Enkel. Die Thüringerin geht in ihrer Arbeit auf und ist damit "ganz und gar glücklich". Heike Euring sieht das genauso: "Frau Trixa ist ein enormes Plus für unser Haus." Und die Heimbewohner haben jemanden, der sich gerne aus ihrem Leben erzählen lässt. Darüber kann Annette Trixa vielleicht irgendwann sogar ihren eigenen Schicksalsschlag vergessen.

© SZ vom 11.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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