Glücksfall Arbeit:Arbeitsspeicher im Kopf

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Warum die Dresdner Bank einen blinden IT-Spezialisten beschäftigt.

Von Christine Demmer

Martin Osewald ist Spezialist für UnixTestverfahren, Judo-Profi, bekennender Goethe-Fan und demnächst Vater zweier Kinder. Und er ist, genauso übrigens wie seine Frau, fast blind. Dass der 39- Jährige nur ein Prozent Sehkraft besitzt, hat seinen Arbeitgeber, die Dresdner Bank, bei der Einstellung überhaupt nicht gestört. Damals zählte anderes.

Christina Dietz und Martin Osewald (Foto: Foto: SZ)

Wir schreiben das Jahr 1999. Ganz Germany goes online, Computerfachleute sind kaum zu finden und wenn doch, dann lassen sie sich hofieren. Die üblichen Wunschlisten reichen von A wie atemberaubende Aufstiegschancen bis Z wie zackige Zulagen. "Es war außerordentlich schwer, Programmierer zu finden, die fachliche Analysen in DV-Konzepte umsetzen konnten, keine überzogenen Ansprüche hatten und gleichzeitig bereit waren, sich fachlich weiterzubilden", sagt Christina Dietz, IT-Referatsleiterin der Frankfurter Großbank. Sie erinnert sich noch gut, wie ihr damaliger Chef auf die E-Mail-Bewerbung von Martin Osewald reagierte. "Das Thema Sehbehinderung spielte überhaupt keine Rolle. Wir suchten händeringend Kollegen für die Entwicklung, und Martin Osewald bot uns Fachkenntnisse, Flexibilität und normale Vorstellungen von seiner Karriere." Unter den Kurzsichtigen ist der Blinde manchmal König.

Dass der gebürtige Kieler eben zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Beruf vorweisen konnte, ist freilich nur die halbe Wahrheit. Osewald ist zwar hochgradig körperbehindert, aber selbstbewusst wie einer mit vier Adleraugen. Seit seiner Kindheit an einer fortschreitenden Augenkrankheit leidend, versuchte er es nach dem Abitur zunächst mit Jura, dann mit einem Lehramtsstudium. Den Vorlesungen konnte er folgen, doch die notwendige Lektüre gestaltete sich trotz Lupe und Spezialmonitor zunehmend schwierig. Nach acht Semestern brach er ab. "Einige beißen sich durch, aber ich war eben noch nicht so weit", meint er.

Statt der Uni absolvierte Osewald eine zweijährige Ausbildung zum Datenverarbeitungs-Kaufmann in der Blindenstudienanstalt Marburg. Die Dozenten dort haben sich auf die Handicaps ihrer Schüler eingestellt und würden niemals Fragen stellen, wie sie nur einem Normalsichtigen einfallen können: Wie er sich denn als Fast-Blinder auf der Tastatur zurechtfindet? "Die Tasten liegen immer an der gleichen Stelle." Oops. Blind nach dem Zehn-Finger-System zu schreiben hat Osewald schon als Schüler gelernt.

Überhaupt sei die Informationstechnik für Sehbehinderte ein ideales Berufsfeld, meint Christina Dietz. Die Bank hat sechs blinde oder stark sehbehinderte Fachkräfte in den Reihen ihrer IT-Mitarbeiter. "Sehbehinderte zeichnen sich in der Regel durch ein sehr gutes Gedächtnis und besondere Fähigkeiten im abstrakten und strukturierten Denken aus. Das sind alles Anforderungen, die wir auch an einen guten IT'ler stellen."

An seinem Arbeitsplatz hat Osewald ein Spezialgerät mit Bildschirmlupe und Vergrößerungssoftware, mit deren Hilfe er bestimmte Abschnitte auf seinem 21 Zoll großen Monitor bis zu 30-fach vergrößern kann. Die markierten Buchstaben auf dem Bildschirm leuchten dann drei bis vier Zentimeter groß, so kann er lesen. Normalerweise würde es ewig dauern, die gerade benötigten Ausschnitte herauszusuchen, aber der Entwickler hat einen guten Arbeitsspeicher - sein Gedächtnis - und findet sich schnell zurecht. "Ich weiß schließlich ganz genau, was ich suche und wo es liegt."

Weil das Betriebssystem Unix, anders als die Fenstertechnik von Microsoft, mit Kommandozeilen arbeitet, bereitet ihm auch das Programmieren nicht mehr Mühe als jedem Sehenden. "Gelegentlich muss ich einen Trainer bitten, nicht nur einfach ein Chart an die Wand zu werfen, sondern etwas dazu zu sagen", sagt Osewald. Aber das tut den oft wortkargen Programmierkünstlern auch mal ganz gut. "Osewald ist ein Vorzeigekandidat, mit dem man alle Arbeitgebervorbehalte auf Null herunterfahren kann", sagt Hans-Heinrich Hustedt, der Schwerbehindertenbeauftragte der Bank.

Übrigens: Manchem mag der Name Martin Osewald bekannt vorkommen. 2002 und 2003 gewann er die Weltmeisterschaft im Judo, und in Sydney holte er 2002 bei den Paralympics die Bronzemedaille für Deutschland. Nein, wir fragen jetzt nicht, wie er seine Gegner denn auf die Matte legen könne, ohne zu sehen, wo sie stehen.

© SZ vom 4.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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