Etikette:Die hohe Kunst der Rücksichtnahme

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Der Trend geht zu den Soft Skills: Immer mehr junge Leute erkennen, dass sie mit schlechten Manieren nicht weit kommen, und sitzen nach.

Von Viola Schenz

Die Erleuchtung kam zwischen Kartoffelsuppe und Käsespätzle. Die beiden Herren hatten sich zum Business Lunch diesmal nicht im Casino getroffen, sondern in der Kantine eines großen Münchner Unternehmens. Allerdings kamen sie kaum zum Reden. Gebannt schauten sie zu, wie die meist jungen und durchaus akademisch ausgebildeten Tischnachbarn ihr Mittagessen malträtierten - die Suppe schlürften, die Messer abschleckten, mit vollem Mund redeten. "Was passiert, wenn die rausgehen, mit Kunden essen, wenn die uns repräsentieren?", fragte der eine, Personalvorstand der Firma. "Da müsste man was machen", dachte der andere.

Inzwischen, drei Jahre später, hat Frank Wiedenmann etwas aus seiner Geschäftsidee von damals gemacht. In diesem Winter eröffnet er in München seine Yes-Akademie. Dort will er jungen Leuten beibringen, nach den Regeln des guten Geschmacks zu essen, sich zu kleiden, sich vorzustellen, zu parlieren, Geschäftsbriefe zu schreiben. Yes steht für Youth Excellence in Soft Skills. Wer Soft Skills besitzt, weiß, dass man die Suppe nicht schlürft, das Messer nicht abschleckt, mit vollem Mund nicht spricht.

Soft Skills - der Begriff ist nicht klar definiert, dafür voll gestopft mit Erwartungen. Soft Skills sind emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz, sind die "weichen" Fähigkeiten, die nirgends gelehrt, aber jetzt wieder überall verlangt werden. Sie zu beherrschen heißt, anderen Respekt zu erweisen, im Team arbeiten, aber auch erfolgreich verhandeln zu können und sich durchzusetzen.

Nur können das offenbar die wenigsten jungen Leute von heute. Als Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn im Sommer 8000 Hochschulabsolventen befragen ließ, bescheinigten sich nur

20 Prozent Führungsqualitäten, 21 Prozent Verhandlungsgeschick, 35 Prozent Durchsetzungsvermögen. Ähnlich sehen es ihre künftigen Bosse: Selbstüberschätzung, mangelndes Sozialverhalten, keine Integrationsfähigkeit, schlechte Erziehung, fehlende Werte und Manieren attestierte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag den Jungakademikern. Fast die Hälfte der befragten 2154 Firmen habe sich deshalb wieder von einem studierten Berufseinsteiger getrennt.

Für Asfa-Wossen Asserate rächt sich jetzt die soziale Erosion, die Ende der Sechzigerjahre in Deutschland einsetzte. "Verbindliche Regeln, wie man Menschen begrüßt, wie man sie anredet, wie man sich anzieht, wie man isst, wie man Gäste empfängt, wie man heiratet und wie man stirbt, gibt es in Deutschland nicht mehr," schreibt der äthiopische Prinz, der seit 1974 in Deutschland lebt, in seinem Bestseller über die guten Manieren. Aber es scheint hierzulande immerhin ein Interesse zu geben, diese Regeln wieder zu lernen. Und davon lebt inzwischen eine ganze Branche: Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht eine neue Benimm-Fibel im Buchhandel landet, das ZDF reicherte den Knigge-Trend mit Thomas Gottschalks Benimm-Show an, und Etikette-Kurse erfreuen sich riesigen Zulaufs.

Auch der von Carolin Metzger. Die zierliche Juristin arbeitet als Trainerin bei der Coach Academy in Stuttgart, einer Nachhilfeschule der baden-württembergischen Wirtschaft für Studenten und Jung-Akademiker in Soft Skills. Auf ihrer Homepage bietet die Akademie Benimm-Tipps, die in vier Wochen über 3000 Mal heruntergeladen wurden. Und das Knigge-Seminar, das Carolin Metzger regelmäßig anbietet, ist immer ausgebucht. Teilnehmer kommen mitunter von weither angereist, auch aus Köln und der Schweiz beispielsweise - Ökonomen, Sozialpädagogen, Übersetzer, Ärzte, Germanisten, Politikwissenschaftler. In vier Seminarstunden wollen sie nachholen, was sie in zwei oder drei Lebensjahrzehnten verpasst haben.

"Bei uns daheim waren Manieren eigentlich kein Thema, da wurden nur die Basics vermittelt", meint einer der Teilnehmer eines Seminars in einer Pause bei Mineralwasser und Gummibärchen. "Meine Eltern zählen sich eigentlich zu den Bildungsbürgern, trotzdem wurde Benimm einfach nicht so ernst genommen, aber jetzt, wo ich auf Jobsuche bin, merke ich, dass es doch sehr wichtig sein kann, richtig mit dem Besteck umzugehen."

Für die Führungskräfte von morgen ist gutes Benehmen eine Qualifikation, die einen Vorteil im Konkurrenzkampf darstellt. 200.000 Bewerbungen gehen jährlich alleine bei Siemens Deutschland ein. "Den jungen Leuten ist klar, dass Soft Skills inzwischen sehr wichtig sind", sagt Eric Hampe, der die Recruiting-Abteilung des Unternehmens leitet. Auch die Personalchefs der Firmen wissen schon lange, dass sie sich nicht mehr nur auf Uni-Diplome und Lebensläufe verlassen können. Die verraten nämlich nicht, ob der Bewerber einen Kunden höflich begrüßen kann oder von sich aus auch mal die Geschirrspülmaschine in der Büro-Küche ausräumt. Man beobachtet daher potenzielle Mitarbeiter erst mal eine Weile. "30 bis 40 Prozent der Neueinstellungen sind Leute, die wir schon kennen", sagt Hampe. Sie rekrutieren sich zum Beispiel aus den gut 13.000 Studenten, die bei Siemens jedes Jahr als Praktikanten, Werkstudenten oder Diplomanden jobben. Wer als sozial kompetent auffällt, erhöht seine Chancen auf eine Anstellung.

"Gezielte Nachwuchsgewinnung" nennt das Thiemo Fojkar vom Bildungswerk der Baden-Württembergischen Wirtschaft, deren Metall- und Elektroindustrie-Verband jährlich eine Million Euro in die Stuttgarter Coach Academy pumpt - auch um den Nachwuchs fit zu machen für eine Arbeitswelt, die immer internationaler und somit fettnäpfchenreicher wird. "Früher waren Führungskräfte hauptsächlich im Binnenmarkt tätig, jetzt müssen sie immer mehr ins Ausland, da sind andere Qualitäten gefragt", erklärt Fojkar.

Nicht anders sieht es bei kleineren Unternehmen aus, bei adidas-Salomon in Herzogenaurach zum Beispiel. Dort liegt der Altersdurchschnitt der Mitarbeiter bei knapp über 30. Personalchef Matthias Malessa gehört mit seinen 45 Jahren schon zu den Älteren, ist aber eigentlich zufrieden mit den Soft Skills der Youngsters: "Die Sozialkompetenz ist heute besser, weil die jungen Leute mehr gereist sind und Auslandspraktika gemacht haben." Und: "Dass jemand gut im Team mitarbeiten kann, ist für uns wichtiger als ein superschnell abgeschlossenes Studium plus MBA." Gefragt ist also Teamfähigkeit - noch so ein Zauberwort der Personalchefs. Nur, wo lernt man sie?

Wie sitzt man bei Tisch?

An der Universität Freiburg gibt es bereits ein Zentrum für Schlüsselqualifikationen, die Fachhochschule Bochum hat ein Institut für zukunftsorientierte Kompetenzentwicklung eingerichtet, an der Uni Wuppertal werden Rede- und Gesprächskompetenz gefördert, die Uni Heidelberg bereitet mit speziellen Kursen ihre Studenten auf die Job-Welt vor, und die Fachhochschule München ging sogar so weit, die einzige deutsche Professur für Soft Skills einzurichten. Die Knigge-Studenten der Stuttgarter Coach Academy amüsiert dieser Trend: "Unsere Profs sollen uns Sozialkompetenz beibringen?", entfährt es einem. "Die wissen sich doch erst recht nicht zu benehmen, die sind geschmacklos gekleidet und können nicht mal grüßen."

Schlechte Manieren sind also keine Frage des Alters oder des Ranges. Eher schon der sozialen Erfahrungen. Rücksichtnahme oder Verhandlungsgeschick lernt ein Kind nicht unbedingt in einer modernen Kleinstfamilie. Wo es immer weniger Geschwister gibt, mit denen man um Spielzeug oder um die Gunst der Eltern konkurrieren muss, bilden solche Talente sich nicht aus. Die Youngsters werden gar nicht erst eingeführt in die soziale Kunst der Rücksichtnahme und des Zurücksteckens. Matthias Malessa, der Personalchef von adidas-Salomon, beobachtet eine wachsende soziale Isolation: "Das ist die Generation, die daheim stundenlang vor dem Computer sitzen kann. Aufgabe der Eltern wäre es, dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen rauskommen, unter Menschen, in Sportvereine, damit sie Sozialkompetenz erwerben."

Frank Wiedenmann, der Gründer der Yes-Academie, spricht vom Einzelkinder-Phänomen und von "sozialen Ich-AGs". Für den 58-Jährigen liegen die Ursachen auf der Hand: "Ich gehöre zur Generation der 68er, und meine Generation hat bei der Erziehung versagt."

Die nächste versucht, es an sich selbst zu korrigieren. Es reifen die Selbsterkenntnis und der Wille, am Feierabend, am Wochenende und in den Semesterferien in einem der nüchtern eingerichteten Seminarräume einer Coach Academy nachzusitzen. Und es reift ein erstaunlicher Pragmatismus: Keiner der Stuttgarter Knigge-Aspiranten will lange darüber nachdenken, was Eltern oder Lehrer oder sonst wer bei ihrer Erziehung falsch gemacht haben. Keiner jammert oder macht Vorwürfe, damit ginge nur kostbare Zeit verloren. Und keiner schämt sich, hier zu sein: "Natürlich habe ich meinen Kollegen erzählt, dass ich teilnehme. Die haben mir sogar Fragen mitgegeben, die ich stellen soll", sagt eine junge Verlagsangestellte.

Die richtige Antwort hat Carolin Metzger so gut wie immer parat. 26 Jahre ist sie alt und damit jünger als so mancher ihrer Zöglinge. Um da ernst genommen zu werden, darf sie sich keine Blöße geben. "In Jeans würde ich niemanden überzeugen", sagt sie. Also tritt sie im Hosenanzug auf, das Gesicht perfekt gepudert, die Nägel manikürt, die Schuhe hochmodisch und poliert und - vorne geschlossen. Nackte Zehen haben in der Geschäftswelt nichts verloren.

"Wie sitzt man bei Tisch?", fragt Carolin Metzger in die Runde. 19 Führungskräfte in spe drücken das Rückgrat durch, legen die Hände rechts und links neben einen imaginären Teller, schließen die Beine, sitzen unbequem. Die Trainerin tröstet sie mit einem Wort des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson: "Gutes Benehmen besteht aus lauter kleinen Opfern."

© SZ vom 20.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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