Die neuen Gastarbeiter:Auf Horchposten in Europas Mitte

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Die Brüsseler Speerspitzen pflegen eine informelle Netzwerkkultur.

Von Christine Demmer

(SZ vom 13.9.2003) Ob Maut oder Dosenpfand, Krötenschutz oder Bankgebühren: Ohne den Segen der Brüsseler EU-Parlamentarier und der dazugehörigen Beamten läuft in der Europäischen Union nichts mehr. Europas Politik wird in Brüssel gemacht. Und weil sich die nationalen Interessengruppen dabei nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen, haben sie fast 30.000 Firmen-, Berufs-, Standes-, Branchen-, Verbands- und Regionsvertreter in die belgische Hauptstadt entsandt. Diese Lobbyisten informieren Kommissionsbeamte und EU-Abgeordnete und vertreten ihnen gegenüber die Interessen ihrer Auftraggeber. Diese Theorie wird in Brüssel hoch gehalten.

"Es ist alles ein Geben und Nehmen", sagt Carsten Glietsch über Brüssel (Foto: Foto: SZ)

In der Praxis freilich geht es darum, "nicht nur die Entstehung, sondern auch die Umsetzung von EU-Beschlüssen in den Mitgliedsstaaten genauestens zu beobachten, notfalls gegenüber der Bundesregierung Korrekturen anzumahnen und Lobbying zu betreiben", erklärt Carsten Glietsch. Der doppelt diplomierte Verwaltungswirt und Verwaltungswissenschaftler leitet seit vier Jahren das von ihm aufgebaute Europabüro der baden-württembergischen Kommunen in Brüssel. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, den EU-Politikern die Standpunkte der Städte und Gemeinden Baden-Württembergs nahe zu bringen. "Es ist wichtig, die Entscheidungsträger in einem möglichst frühen Stadium zu kontaktieren", betont der 34-Jährige. Denn rund 80 Prozent aller europäischen Richtlinien und Verordnungen wirken sich direkt oder indirekt auf Landkreise, Städte und Gemeinden der Mitgliedstaaten aus.

Alle Politikbereiche sind betroffen: Umwelt- und Abfallrecht, Vergaberecht, Struktur- und Regionalpolitik, Liberalisierung von Energie, Wasser und öffentlichem Personennahverkehr, Wettbewerbsrecht und staatliche Beihilfen. Da aber die EU-Behörden keine Durchgriffsmacht auf die Parlamente der Mitgliedsstaaten haben, muss eine in Brüssel beschlossene Gesetzgebungsmaßnahme in nationales Recht umgesetzt werden.

Freilich selten eins zu eins. Hier eine Ausnahme, dort eine Verzögerung - draußen in Europa wird nichts so heiß gegessen, wie es die Brüsseler Großküche verlässt. "Es gibt immer gewisse Spielräume", sagt Glietsch. Ganz anders ist es mit Büroräumen in Brüssel. Sie sind, ebenso wie Wohnungen, extrem knapp und teuer. Deshalb teilt sich der Verwaltungsfachmann mit den Vertretern der bayerischen und der sächsischen Kommunen im Europaviertel in einem Gemeinschaftsbüro das Kopiergerät und freut sich über die Synergieeffekte. Nach Deutschland zurück will er allerdings vorerst nicht: "Der Job ist auch nach vier Jahren noch immer spannend und abwechslungsreich."

In die Verlängerung

Schon während des Studiums hatte Glietsch Auslandsluft geschnuppert - eine unerlässliche Voraussetzung, um einen Job im Dunstkreis der EU zu bekommen: Ein Semester an der University of Limerick, fünf Monate Praktikum bei der deutsch-kanadischen Handelskammer in Toronto, acht Wochen bei einem Europa-Abgeordneten in Brüssel. Danach stand für ihn fest: Nach dem Examen geht's ins Ausland. Tout bien, es wurde ein Prädikatsexamen, und Carsten Glietsch zog nach Belgien.

Nach Ablauf eines Zwei-Jahres-Vertrages mit den südwestdeutschen Kommunen ging Hobbyfußballer Glietsch in die unbefristete Verlängerung. Und fühlt sich auf dem internationalen Spielfeld, württembergisch korrekt ausgedrückt, sauwohl. Er bedauert, wenig Kontakt zu Belgiern zu haben, kennt aber viele EU-Politiker und Kollegen der rund 200 Regional- und Kommunalbüros. "Bestimmte Vertreter interessieren sich für die gleichen Themen, da läuft man sich bei Veranstaltungen immer wieder über den Weg", sagt er. "Man baut sein eigenes Netzwerk auf." Das wichtigste Gebot: "Es ist alles ein Geben und Nehmen. Es wird genau registriert, wenn jemand nur nimmt, aber nichts gibt."

Nicht bis zur Rente

Im Gegensatz zu einigen anderen Lobbyisten, die einen Arbeitsvertrag nach belgischem Recht und damit weniger Urlaub haben, aber mehr Steuern bezahlen, hat Glietsch einen deutschen Arbeitsvertrag, entrichtet in Deutschland Steuern und Krankenversicherung und geht nach Möglichkeit zu seinen vertrauten Ärzten in der Heimat. Von Brüssel aus ist das ein Katzensprung. Auf Rente gehen Lobbyisten in Brüssel nur selten. Im Schnitt bleiben sie drei bis fünf Jahre und wechseln dann, ähnlich wie Auslandskorrespondenten der Medien, entweder in ihre Heimatländer oder suchen sich anderswo eine neue Vermittleraufgabe.

Ihr wichtigstes Mitbringsel aus der EU-Hochburg ist das Adressbuch mit Namen und Telefonnummern ihrer Kontaktleute. Natürlich auch von Restaurants. Denn hochgerühmt ist Brüssel für seine Viel-mehr-als-Pommes-frites-Gastronomie, weil man hier reichlich Geld für aushäusige Mahlzeiten spendiert. Klar: Wo könnten die Lobbyisten besser ihre Interessen vertreten und die EU-Politiker zwangloser kennen lernen? Glietsch hat in vier Jahren acht Kilo zugenommen. "Die müssen spätestens dann wieder runter, wenn ich Belgien verlasse." Aber immerhin: Es sind wertvolle Pfunde, mit denen er in seinem Adressbuch wuchern kann.

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