Bildung in Deutschland:"Wir kümmern uns zu wenig um die Schwachen"

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Bildungsforscher Klaus Klemm über die Herausforderungen der nächsten Jahre.

Nicola Holzapfel

Zu viele Bildungsverlierer, zu wenige Akademiker: Für das deutsche Bildungssystem hagelt es regelmäßig von der OECD schlechte Noten. Ein Interview mit dem Bildungsforscher Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen über die nötigen Reformen.

sueddeutsche.de: Was ist das drängendste Problem im deutschen Bildungssystem?

Klaus Klemm: Das zentrale Problem in den kommenden Jahren ist: Wie können wir dafür sorgen, dass die 20 bis 25 Prozent Schwächsten zu einer abgeschlossenen Schul- und anschließender Berufsausbildung kommen und möglichst auch Arbeit finden?

Zehn Prozent aller Jugendlichen bleibt heute ohne Schulabschluss, fünfzehn Prozent schließen keine Ausbildung ab. Dazu kommen all die, die nicht gefragte Berufe erlernen. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, allen Heranwachsenden einen Perspektive zu bieten. Zumal angesichts der demographischen Entwicklung, die uns gar keine andere Wahl lässt: Wir müssen alle Jugendlichen optimal ausbilden.

sueddeutsche.de: Wie fördert man die Schwachen?

Klemm: Die wichtigsten Maßnahmen sind den Bildungsauftrag der Kindergärten zu stärken und die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule zu verbessern. In den Schulen muss es mehr individuelle Unterstützung für die Kinder geben und das Ganztagsangebot muss ausgebaut werden.

Auch die Kinder mit Migrationshintergrund, die in Deutschland im internationalen Vergleich besonders schlecht gefördert werden, müssen stärker ins Blickfeld geraten.

Außerdem müssen wir von der Illusion Abstand nehmen, dass das duale System hinreichend Ausbildungsplätze bietet. Zu viele Jugendliche parken heute in Überbrückungsmaßnahmen, die ihnen nicht weiterhelfen. Wir müssen parallel ein System entwickeln, das alle Jugendlichen den Weg zu abgeschlossenen Berufsausbildungen ermöglicht.

sueddeutsche.de: Im jüngsten OECD-Bericht hieß es ja, dass Deutschland zu wenig Akademiker ausbildet.

Klemm: Deutschland hat ein hochselektives Schulsystem. Nur knapp 40 Prozent erreichen die Hochschulreife. Das kann man gar nicht kurzfristig steigern. Seit zehn Jahren stagniert die Zahl der Kinder, die das Gymnasium besuchen.

sueddeutsche.de: Müsste man die frühe Aufteilung in unserem Schulsystem ändern?

Klemm: Die Aufteilung der Kinder nach der vierten Klasse halte ich für unsinnig. Aber das ist eine Debatte, die in Deutschland zu nichts führt.

sueddeutsche.de: Ist die Einführung von Studiengebühren angesichts der mageren Akademiker-Zahlen ein falsches Signal?

Klemm: Studiengebühren an sich schrecken nicht ab. Das Problem in Deutschland ist, dass sie ohne die Einführung eines ausreichenden Stipendiensystems kommen. Das wird die soziale Selektion noch verschärfen.

sueddeutsche.de: Nun hat es in den vergangenen Jahren einige Reformen im Bildungsbereich gegeben. Sind wir auf einem guten Weg?

Klemm: Nein, das zu sagen wäre übertrieben. Es sind richtige Schritte gemacht worden: Der Bildungsauftrag der Kindergärten wurde in allen Bundesländern verankert, die Sprachförderung verbessert und das Ganztagsangebot ausgebaut.

Die Kultusminister haben in den vergangenen fünf Jahren so viel angepackt wie in den letzten 20 Jahren nicht. Aber sie achten zu wenig auf die wirklich Schwachen und sie realisieren nicht die Folgeprobleme ihrer Maßnahmen.

Im nächsten Jahrzehnt kommt zum Beispiel das Problem auf uns zu, dass nahezu alle Bundesländer die Gymnasialzeit verkürzt haben. Dann werden zwei Abi-Jahrgänge gleichzeitig an die Hochschulen und später auf den Arbeitsmarkt drängen. Das wird die Studierendenzahl nach groben Schätzungen um 600.000 steigern. Die jungen Leute werden in Warteschleifen geraten. Das kompensiert dann wieder den Zeitgewinn durch ein Jahr weniger Schule.

sueddeutsche.de: Im OECD-Vergleich fließt in Deutschland wenig Geld in den Bildungssektor.

Klemm: Das deutsche Bildungssystem ist unterfinanziert. Wenn Deutschland so viel ausgeben würde wie Schweden, müsste es jährlich 40 Milliarden Euro mehr an öffentlichen Mitteln investieren. Das zeigt, welcher Spielraum im internationalen Vergleich besteht.

Die Politik darf jetzt nicht das Geld, das durch die demographische Entwicklung frei wird, dem Bildungssystem entziehen. Allein durch sinkende Schülerzahlen werden in den Jahren bis 2015 acht Milliarden Euro jährlich frei. Die müssen im System bleiben und dort sinnvoll investiert werden.

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