Bayern:Großbaustelle Schulsystem

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An bayerischen Schulen herrschen Ärger, Trotz und Frustration. Lehrer und Eltern sind mit den Nerven am Ende.

Von Sebastian Beck

Das Kultusministerium meint es gut mit Schulleiter Hans Socher. Fast jeden Tag bekommt er mit der Post neue Ideen aus München zugeschickt. Zum Beispiel die Beobachtungsbögen: Über jeden seiner Schüler sollte Socher eine ausführliche psychologische Analyse erstellen. Wie er das machen sollte, stand in einer umfangreichen Anleitung. Nur wann er das machen sollte, das stand nirgends. Jetzt sitzt Socher in seinem Büro an der Grund- und Teilhauptschule Peißenberg und wedelt mit den Formularen. "Es kommen ständig Änderungen ohne Vorankündigung", stöhnt er. "Für das wurden sogar schon Leute geschult." Die Beobachtungsbögen kann Socher in den Papierkorb werfen, gemäß der neuesten Anweisung aus München. Dort hat man erkannt, dass die Erhebung der Daten vielleicht doch ein bisschen kompliziert ist.

Wie Socher geht es vielen seiner Kollegen im Kreis Weilheim-Schongau und in ganz Bayern. Im Durcheinander der Schulreformen haben die Lehrer den Überblick verloren. Nach den Pisa-Schocks soll alles besser und irgendwie anders werden. Das bayerische Schulsystem gleicht einer Großbaustelle. Überall wird gebaggert und betoniert, nur der Bauplan ändert sich ständig.

Allenfalls zwei Vorgaben von Kultusministerin Monika Hohlmeier gelten ohne Einschränkungen für alle Schularten: Es muss schnell gehen und darf nichts kosten. Das sorgt für Stress und Ärger. Selbst Martin Barth, der Leiter des Schulamtes in Weilheim, klagt über den ungestümen Tatendrang der Münchner Ministerialbürokratie: "Da geht einiges in den Aktionismus hinein. Alles soll schnell über die Bühne gehen." Veränderungen, sagt Barth, bräuchten nun einmal Zeit.

"Man hechelt von einer Stunde zur anderen", beschreibt Alexandra Wiegand die Situation am Gymnasium Weilheim, wo sie Latein, Griechisch und Deutsch gibt. Auch dort wurde mit Schuljahresbeginn das achtstufige Gymnasium G8 eingeführt, mit zusätzlichem Unterricht am Nachmittag. "Über Nacht werden Konzepte entwickelt, von denen man nicht weiß, ob sie tragfähig sind", sagt Wiegand. "Von der Qualität her sind wir sicherlich nicht auf dem richtigen Weg. Da spreche ich für das Gros der Lehrer."

Ihre Kollegen und sie müssen improvisieren. Wie fast alle Gymnasien war auch das in Weilheim nicht auf die Mittagsbetreuung vorbereitet: Kantine und Aufenthaltsräume für 250 Schüler fehlen, die Lehrer sind mit der Aufsicht überfordert. Warmes Essen gibt es nur, weil Eltern ehrenamtlich helfen. Oder weil der Hausmeister sein Talent als Koch entdeckt hat - wie am Gymnasium Schongau, wo die Kinder ihre Teller mangels Sitzgelegenheit aber auf die Knie stellen müssen.

380 Überstunden pro Jahr

Die Stimmung schwankt zwischen Ärger, Frustration und Trotz. Schulleiter Socher in Peißenberg hat ausgerechnet, dass es ein durchschnittlicher Lehrer mittlerweile auf 45 Arbeitsstunden pro Woche bringt. Wiegand schätzt ihre Arbeitszeit sogar auf bis zu 60 Stunden, etwa wenn sie Deutsch-Arbeiten korrigieren muss. Das summiert sich auf 380 Überstunden pro Jahr - kostenlos, versteht sich. Nicht nur Socher platzt der Kragen, wenn er wieder einmal zu hören bekommt, wie gut es doch die Lehrer hätten. Und wie faul sie im Grunde genommen seien. Auf einer Elternversammlung hat er einmal geschildert, welche Aufgaben Lehrer freiwillig und eher nebenbei übernehmen. Danach, sagt Socher, seien die Leute baff gewesen.

Von 60 Grund- und Hauptschullehrern in Weilheim-Schongau sind gerade einmal drei mit 65 in den Ruhestand gegangen. Die anderen machten vorzeitig schlapp - vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Burnout-Syndrom setzen dem Lehrkörper zu. "Lehrer, die älter sind als 50, packen das nicht mehr", sagt Socher.

Dabei ist die weitgehend ländlich strukturierte Gegend im Südwesten Münchens noch vergleichsweise gut dran: Unterrichtsausfälle sind selten, die Schüler sind nicht so schwierig wie in Großstädten, der Anteil ausländischer Kinder in den Klassen ist niedrig. "Doch auch hier nehmen Verhaltensauffälligkeiten zu", sagt Socher. Die Belastung der Lehrer steigt. So sollen auch in Peißenberg verstärkt Kinder aus Förderschulen in der Grundschule integriert werden. Die Idee findet Socher zwar gut, doch leider reichten die Lehrer für eine individuelle Betreuung nicht aus. Für die dringend notwendige Schulsozialarbeit fehlt Geld, nur an einigen ausgewählten Schulen, wie etwa in Penzberg, haben die Kommunen Stellen geschaffen.

Auch die Eltern machen Druck: In Weilheim-Schongau haben sich Elternbeiräte und Lehrer aller Schulen zusammengeschlossen - ein einmaliges Projekt. Treibende Kraft ist Sibylle Rollinger aus Polling, die selbst ein Kind am Gymnasium Weilheim hat. Sie engagiert sich seit Jahren an den Schulen. Nach den großen Ferien hat sie erstmals daran gedacht, alles hinzuschmeißen. Sie setzte sich unter anderem erfolgreich für die Aufstockung der Aushilfslehrer-Kontingente ein, brachte eine Petition für mehr Schulsozialarbeit auf den Weg. Als aber dann Anfang des Schuljahres die Lernmittelfreiheit abgeschafft wurde, reichte es ihr. "Ich kämpfe mit Niedergeschlagenheit", gesteht sie. Das Konzept der Staatsregierung fasst sie kurz so zusammen: Sparen und Leistung erhöhen. Flickschusterei werde betrieben. Die Wahrnehmung der Eltern sei, dass die Lage sogar schlechter werde. Auch Socher findet: Trotz der Reformen sei die Qualität der Schulen nicht besser geworden. Es mangele schlicht am Geld.

Der Pausengong ertönt, das Lehrerzimmer füllt sich. Was sie von Schulministerin Monika Hohlmeier halten? Die Lehrer der Grund- und Teilhauptschule Peißenberg sagen nichts, dafür bricht schallendes Gelächter aus. Was ja irgendwie auch eine Antwort ist.

© SZ vom 27.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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