Aus dem Alltag zweier Arbeitsvermittlerinnen:Bundesanstalt für Kosmetik

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Sie sind angehalten, mit Tricks die Zahlen zu schönen, sie würden manches gerne ändern, dürfen aber nicht - nur Frust gibt es reichlich in der Behörde.

Alexander Hagelüken

(SZ vom 11.2.2002) Berlin, 10. Februar - Sie zählt die Tage. Siebzehn, sechzehn, fünfzehn. Heute Morgen sind es nur noch vierzehn Werktage, an denen Katrin Meyer in ihr Büro im Arbeitsamt gehen muss. Drei Wochen bis zum Ende eines Versuchs. Anfang März ist endgültig Schluss mit ihrem persönlichen Einsatz gegen die Arbeitslosigkeit. Katrin Meyer hat gekündigt. Sie hält es nicht mehr aus im Arbeitsamt.

Mancher Arbeitsvermittler würde hier lieber vorbei gehen, statt zu seiner Arbeit (Foto: N/A)

Der rosa Zettel

Die 40-jährige Stellenvermittlerin wird ihren Schreibtisch ausräumen und die Poster von der Wand nehmen. Sie wird sich von den Kollegen herzlich verabschieden. Aber nur von wenigen. Mit den anderen möchte sie möglichst nichts mehr zu tun haben.

Ihr Abschied hängt mit dem Formular II1e zusammen. Römisch zwo einse, sagt die Arbeitsvermittlerin. Dieser rosafarbene Zettel, den ein Arbeitsloser auf dem Amt ausgehändigt bekommt. Falls er einen Job findet, muss der Arbeitslose das Formular II1e wieder abgeben. Wenn ein rosa Zettel zurückkommt, verbuchen sie in Katrin Meyers nordrhein- westfälischem Arbeitsamt einfach eine erfolgreiche Stellenvermittlung. Auch wenn sich der Arbeitslose seinen neuen Job selbst gesucht hat, das Amt gar nichts beigetragen hat. Ein kleiner Eintrag, und schon sieht die Bilanz der Bundesanstalt für Arbeit wieder ein bisschen besser aus. "Und das ist nur einer der Tricks", erzählt Meyer.

Die Reaktion

Die anderen Tricks stehen im neuen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs: Einen vermittelten Arbeitsplatz melden, obwohl niemand eingestellt wurde. Eine Vermittlung melden, obwohl die Firma den vorgeschlagenen Bewerber abgelehnt hat. Eine Vermittlung melden, obwohl sich ein Arbeitsloser nur am Computer Stellenangebote ausgedruckt hat.

Die Bundesanstalt für Arbeit präsentiert jedes Jahr stolz 3,9 Millionen Stellenbesetzungen. Wer soll das jetzt noch glauben? Der Datenskandal findet nicht in irgendeiner Behörde statt. Die Bundesanstalt liefert die statistischen Grundlagen für politische Vorhaben, die die Bundestagswahl im Herbst mitentscheiden. Sie ist Zuflucht für 4,3 Millionen Arbeitslose.

In Katrin Meyers Arbeitsamt wurde auf den Rechnungshofbericht reagiert, sagt sie. Sofort. Es kam eine Anweisung vom Vorgesetzten, auf keinen Fall mit Journalisten zu reden. Katrin Meyer heißt in Wirklichkeit anders. Sie spricht nur unter der Bedingung, dass ihre Identität und ihr Arbeitsamt geheim bleiben. Auf den Fluren erzählen sich ihre Kollegen von Vermittlern, die ihre Kritik offen in der Zeitung äußerten. Mit Foto. Es soll ihnen nicht gut bekommen sein.

Das Experiment

Katrin Meyer ist Teil eines Experiments, dessen Ziel bessere Leistungen der seit Jahren umstrittenen Arbeitsämter sind. Die Westfälin war früher bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Dort war es selbstverständlich, die Stärken und Schwächen eines Bewerbers genau zu erfassen. Nur wer weiß, über welche Fähigkeiten jemand verfügt, könne ihm einen Job verschaffen, findet Meyer. Wegen solcher Erfahrungen wurden Experten wie sie für die Arbeitsämter angeworben. Das war jedenfalls die Idee.

Als Katrin Meyer vergangenen Oktober im Arbeitsamt anfing, machten ihr die altgedienten Kollegen erst einmal klar, was sie auf keinen Fall dürfe: besser sein als die, die schon lange dabei sind. "Ich sag' immer, dieser Laden ist wirklich die größte Anstalt Deutschlands."

Wenn sie ihren Arbeitsalltag schildert, sagt sie nie bei uns, sondern im Amt. "Im Amt herrscht wahnsinnige Angst, dass die Vermittlung privatisiert wird und richtige Konkurrenz entsteht." Wegen dieses Drucks solle jeder möglichst viele Stellenbesetzungen melden. Jeder Vermittler, auch der faule, könne sich die Erfolge organisieren, die die Spitze der Behörde ständig fordert. Etwa durch den Trick mit dem Römisch zwo einse. "Ich sag' immer, solche Manöver glauben Sie gar nicht." Als sie zum ersten Mal einen Vorgesetzten darauf ansprach, antwortete der: "Wenn Sie das nicht machen, machen es eben die anderen." Für Katrin Meyer hat das nun bald ein Ende.

In drei Wochen kehrt sie in die freie Wirtschaft zurück und freut sich darauf. Leid tut ihr nur Gerhard Schröder. "Der Kanzler kann wirklich nichts für die hohe Arbeitslosigkeit. Ich behaupte mal, wenn die Ämter anders arbeiteten, könnten viel mehr Menschen einen Job finden."

Der Dienstweg

Doris Brenner ist schon lange Arbeitsvermittlerin. Vor kurzem waren es zehn Jahre. Als sie damals anfing, wollte sie vieles verändern. Zum Beispiel das mit dem Schreibtisch. Wie kann sich ein Arbeitsloser wohl fühlen, wenn er wie ein Bittsteller vor dem Schreibtisch Platz nehmen muss? Doris Brenner schlug vor, sich gemeinsam mit den Arbeitslosen an einen Tisch zu setzen. Ihnen Kaffee anzubieten. Sie zu behandeln, wie ein Dienstleister seine Kunden behandelt.

Ihr Chef fand solche Vorschläge höchst überflüssig und teilte ihr das schriftlich mit. Auf dem Dienstweg. "Oh ja, bei uns muss immer der Dienstweg eingehalten werden. Das ist extrem wichtig."

Doris Brenner sagt nicht im Amt, sondern bei uns. Sie ist schon so lange dabei, dass sie sich nicht vorstellen kann, woanders zu arbeiten. Die Welt der Zeitarbeitsfirmen kennt sie nicht. Aber sie glaubt immer noch, dass man die Arbeitslosen wie Kunden behandeln sollte. Nur fällt ihr das manchmal auch schwer.

Die Acht-Minuten-Beratung

Auch Doris Brenner heißt in Wahrheit ganz anders. Sie ist in einem norddeutschen Arbeitsamt beschäftigt, zuständig für die Vermittlung von Bauarbeitern. Im Schnitt hat sie 800 Arbeitslose zu betreuen, manchmal 1000. Nicht selten muss einer stundenlang warten, um kurz mit ihr sprechen zu können. Und schreit sie deshalb an. Es kommt vor, dass sie an einem Vormittag 30 Menschen durch ihr Zimmer schleust. Macht durchschnittlich acht Minuten für jeden Kunden.

Neulich saß ein Bauarbeiter aus Ex-Jugoslawien bei ihr. Ein Mann mit kräftigen Händen. Verschlossen wie ein Stein. Normalerweise. Diesmal war er so verzweifelt, dass er weinte. Doris Brenner bekam ein schlechtes Gewissen, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, wie sie den Mann möglichst schnell aus ihrem Zimmer hinaus komplimentieren könnte. Es warteten doch noch so viele draußen. "Natürlich könnte ich mehr Arbeitslosen helfen, wenn ich mehr Zeit für den Einzelnen hätte", sagt sie. Die Spitze der Bundesanstalt für Arbeit hat es aber so organisiert, dass von ihrem 93000 Angestellten genau 8000 mit der Vermittlung beschäftigt sind.

Die Praktiken

Doris Brenner hat einfach zu wenig Zeit, Arbeitslose und Stellen zusammenzubringen. Die Ergebnisse sollen trotzdem glänzen. Deshalb verlangten ihre Vorgesetzten seit Jahren, dass sie die Zahlen schönt, sagt sie.

Das geht ganz leicht. Zum Beispiel melden sich viele Bauarbeiter arbeitslos, sobald im Winter die Baustellen ruhen. Oft legen sie eine schriftliche Zusage ihrer Firma vor, sie im Frühjahr wieder einzustellen. Dann werden sie nicht mit Stellenangeboten behelligt. Im Frühjahr fangen sie wieder bei ihrer Firma an. Sie haben nie einen Job gesucht. Die Firma hat nie nach Bewerbern gesucht. Aber das Arbeitsamt bucht eine Stellenvermittlung aufs Erfolgskonto.

Das sind so die Praktiken. Einige Tricks entsprechen sogar dem offiziellen Regelwerk der Bundesanstalt. Die Vermittlerin ärgert daran vor allem, dass sie sich dadurch noch weniger um die Arbeitslosen kümmern kann. "Dieses ganze Getürke kostet wahnsinnig viel Zeit."

Das Klima

Der Präsident der Bundesanstalt, Bernhard Jagoda, versucht die falschen Statistiken als Versehen zu entschuldigen. Die Vermittler stünden unter Zeitdruck und gäben deshalb womöglich Daten unvollständig ein, erklärte er. Doris Brenner findet solche Aussagen infam. Denn sie wehrt sich seit Jahren gegen die Schönfärberei. In diesen Tagen laufen ihre Kollegen mit Zeitungsartikeln über den Datenskandal durch die Gänge. Keiner zweifelt die Berichte an, sagt sie.

Es muss ein besonderes Klima in den Arbeitsämtern herrschen, wenn solche Praktiken jahrelang unter der Decke bleiben. Doris Brenner erklärt das Schweigen damit, dass Arbeitsvermittler panische Angst vor der Entlassung hätten. "Nach dieser ganz speziellen Ausbildung und Tätigkeit nimmt einen doch kein Unternehmen mehr." Und wer ein bestimmtes Alter erreicht hat, dessen Chancen auf eine neue Stellung stehen ohnehin ganz schlecht. Wer wüsste das besser als jemand, der Arbeitslosen diese Botschaft jeden Tag überbringen muss.

Doris Brenner fährt täglich mit dem Bus zur Arbeit. Wenn der Bus an ihrer Haltestelle angekommen ist, möchte sie manchmal einfach sitzen bleiben. Sie steigt dann aber doch immer aus und geht ins Arbeitsamt.

Die Möglichkeiten

Dirk Niebel war acht Jahre lang Fallschirmjäger, danach acht Jahre lang Arbeitsvermittler. Welche der Tätigkeiten er als anstrengender empfindet, kann er nicht sagen. Aber dafür, was er in den letzten acht Jahren Anstrengendes erlebt hat: Da war der Alkoholiker, der immer betrunken ins Arbeitsamt kam und sich vor seinem Schreibtisch in die Hose machte. "Den hätte ich zur Therapie schicken müssen." Er denkt an den ungelernten Lagerhelfer, dem er eine Chance zur Qualifizierung besorgen wollte. Dann war da der 36- Jährige, der seit 16 Jahren auf Staatskosten lebte und jede Arbeit verweigerte. "Ich hätte ihm das Geld streichen müssen."

Meist durfte Niebel in keinem der Fälle tun, was er für richtig gehalten hätte.

Häufig konnte er Stellen nicht besetzen. Das bedeutete nicht unbedingt, dass es keine Bewerber gegeben hätte. Niebel konnte sie nur in seinem Computer nicht finden. Der erfasste lediglich die Bewerber aus seinem Arbeitsamtsbezirk Heidelberg. Möglich, dass eine Firma einen Lackierer suchte und in der Nachbarstadt ein Lackierer eine Stelle. Niebel erfuhr es nur nicht. "Fünf Meter weiter gab es vielleicht jemanden, der händeringend Arbeit suchte. Aber woher sollte ich das wissen?"

Plan und Utopie

Dirk Niebel war früher wirklich in Heidelberg beschäftigt, und er heißt wirklich so. Er möchte sogar, dass möglichst viele Leute seinen Namen erfahren, denn er sitzt seit drei Jahren für die FDP im Bundestag. Arbeitsvermittler wollte er nicht mehr sein. An der Datenaffäre erstaunt ihn nur das Ausmaß.

Der 38-Jährige hat für die Ursachen des Skandals eine eigene Erklärung. Durch die hohen Vermittlungszahlen sichert sich die Bundesanstalt jedes Jahr 20 Milliarden Euro für Beschäftigungsprogramme, sagt er. Das bedeutet Macht, Prestige, Posten. "Durch diese Programme ist eine eigene Industrie entstanden." Ganz vorne mit dabei sind Arbeitgeber und Gewerkschaften mit ihren Bildungswerken. Dieselben Arbeitgeber und Gewerkschaften, die traditionell die beiden Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit stellen. Niebel ist über den Rechnungshofbericht nicht unglücklich. Im Gegenteil: "Vielleicht bewegt sich jetzt endlich was."

Dirk Niebel sitzt in seinem kleinen Abgeordnetenbüro in der Berliner Dorotheenstraße und überlegt sich, wie sich die Arbeitsbedingungen seiner ehemaligen Kollegen verbessern lassen. Er will die Vermittler vom Papierkram entlasten, der sie oft bis zur Hälfte ihrer Zeit kostet. Er will die Verwaltung reduzieren. Und er stellt sich Jobcenter vor, in denen private und staatliche Berater zusammenarbeiten. Diese Jobcenter soll kein Arbeitsloser verlassen, ohne dass er entweder eine Stelle oder ein Qualifikationsangebot oder einen Therapieplatz bekommen hat. Das ist der Plan. Dirk Niebel stutzt einen Moment, als überraschten ihn seine eigenen Gedanken. "Wenn ich mir die heutigen Strukturen der Bundesanstalt für Arbeit anschaue, ist so etwas wahrscheinlich ziemlich utopisch."

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