Arbeitszeit:Wenn der Job am Leben frisst

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Früher anfangen, später gehen: Über den unausgesprochenen Zwang, freiwillig mehr zu arbeiten.

Von Nicola Holzapfel

Sechs Uhr abends. Obwohl der Arbeitstag laut Vertrag schon zu Ende ist, machen sich viele noch lange nicht auf den Weg nach Hause. Das Projekt muss fertig werden, die Besprechung hat gerade erst begonnen und das Telefon klingelt. Vielleicht ist der Kollege in Urlaub und dann muss seine Arbeit eben mit erledigt werden, irgendwie.

Immer Vollgas arbeiten? "Es ist die Frage, wie viele das durchhalten können", sagt Ernst-H. Hoff von der FU Berlin. (Foto: Foto: photodisc)

So sieht eine Arbeitswelt aus, für die Wissenschaftler den schönen Begriff der "Entgrenzung" gefunden haben. Unternehmen orientieren sich stärker am Markt und Kunden, bauen Hierarchien ab und setzen auf Gruppen- und Projektarbeit, führen flexiblere Arbeitszeiten und neue Beschäftigungsformen ein. Der moderne Mitarbeiter arbeitet solange und wann es die Arbeit erfordert oder steht als Selbstständiger rund um die Uhr auf Abruf zur Verfügung.

Die neuen Strukturen geben ihm zwar mehr Mitverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten und die Freiheit, früher zu gehen, wenn mal wenig los ist, aber sie haben auch Schattenseiten: "Die Beschäftigten können sich zwar mehr nach ihren Bedürfnissen orientieren, müssen sich aber auch nach dem Markt und den Kunden richten", sagt Nick Kratzer vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Das setzt unter Druck: "Der Markt übt heute mindestens eine genauso große Gewalt aus wie früher der Vorgesetzte. Nur dass man mit ihm nicht verhandeln kann", sagt Kratzer. "Wenn es heißt: 'Die Firma geht pleite, wenn wir diesen Auftrag nicht bekommen oder dieses Projekt nicht rechtzeitig fertig wird', gibt es kein Argument dagegen."

Das heißt auf gut Deutsch: Mehrarbeit. Wie eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen zeigt, kommen viele Beschäftigte, die mit Arbeitszeitkonten arbeiten, gar nicht mehr dazu, diese einzulösen. "Auf Arbeitszeitkonten wird immer mehr strukturelle Mehrarbeit aufgebaut", sagt Thomas Haipeter vom IAT. "Wenn 100 bis 200 zusätzliche Stunden aufgelaufen sind, können das die Beschäftigten nicht mehr abbauen."

Dafür fehlt es schlicht an Personal: "Im Moment operieren die Unternehmen mit einer Personalpolitik der unteren Linie. Sie beschäftigen nur ein Minimum an Mitarbeitern. Schwankungen werden über die Arbeitszeiten abgepuffert", sagt Haipeter. Wenn die Vertretung fehlt, kann auch niemand ein Sabbatical nehmen, um seine Überstunden abzubauen.

In einigen Unternehmen landet die Mehrarbeit auf Langzeitkonten. "Sie können dann zum Beispiel für den Vorruhestand genommen werden", sagt Haipeter. Andere Arbeitgeber zahlen die Mitarbeiter aus. Und manchmal verfällt der Anspruch ab einem bestimmten Stellenwert automatisch. "Das ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn für die Beschäftigten selbst die Arbeitszeit nur noch zweitrangig ist und es ihnen in erster Linie darauf ankommt, ihre Ziele einzuhalten - egal in welcher Zeit", sagt Haipeter.

Dass bei flexiblen Arbeitszeiten eher mehr gearbeitet wird, zeigt auch eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Demnach hat mehr als die Hälfte der befragten Beschäftigten in den Wochen vor der Umfrage länger gearbeitet als vertraglich vereinbart. Entweder, weil die Arbeit sonst nicht zu bewältigen gewesen wäre, weil kurzfristig Probleme aufgetaucht sind oder sie sonst mit dem Arbeitsergebnis nicht zufrieden gewesen wären.

Im Schnitt arbeiten die Deutschen 41,9 Stunden die Woche im Westen, im Osten kommen sie auf 43 Wochenstunden. Von den Beschäftigten in hohen Positionen kommen laut WSI-Umfrage 21 Prozent auf mehr als 48 Stunden. Von den vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten, die für Vollbeschäftigte im Schnitt bei 38,9 Stunden liegt, sind sie damit weit entfernt.

Für Sabine Löhmann* wäre bei dieser Stundenzahl die Arbeitswoche schon am Mittwoch vorbei gewesen. Die Abteilungsleiterin in der Medienbranche hatte über Jahre eine 60-, 70-Stunden-Woche. Sie war ständig zwischen Berlin, Köln, Hamburg und München unterwegs. "Das zehrt sehr und setzt voraus, dass man sehr gut organisieren kann. Auch das private Leben leidet darunter." Wegen des Jobs ist eben vieles auf der "Strecke geblieben".

"Es sind die Jungen, die das alles klaglos mitmachen und daraus Befriedigung ziehen. Das ändert sich mit den Jahren. Dann wird die Partnerschaft wichtiger oder der Reiz etwas geschafft zu haben, was eigentlich nicht zu schaffen ist, lässt nach. Sie versuchen dann in einen halbwegs normalen Rhythmus zu kommen. Das ist aber schwer", sagt Kratzer. Denn die Möglichkeiten auszusteigen, sind gering. "Es gibt legitime Austiegsoptionen, zum Beispiel wenn man Kinder bekommt, gesundheitliche Probleme hat oder etwas Ehrenamtliches macht. Aber das hat meistens berufliche Nachteile", sagt Kratzer.

Sabine Löhmann hat einen Weg gefunden. Sie hat den Job gewechselt. Auch jetzt macht sie noch Überstunden, arbeitet bis zu 50 Stunden die Woche. "Ab einer bestimmten Position gehört das dazu." Sie hätte zwar gern mehr Zeit für sich, sieht die Situation aber realistisch. "Ich habe den Anspruch, eine abwechslungsreiche Tätigkeit zu haben. Ein Job, wo man ohne Termindruck ruhig vor sich hinarbeitet und Freitagmittag den Bleistift fallen lässt, wäre nichts für mich." Also hat sie sich damit abgefunden, dass die Mehrarbeit in ihrem Job dazu gehört.

Auch Julian Fischer, Key-Accounter in einer Hamburger Internet-Agentur, arbeitet auf Dauer mehr als vertraglich vereinbart. Je nach Auftragslage werden die Arbeitstage mitunter sehr lang. Im vergangenen Jahr hatte er 340 Überstunden angesammelt. Nehmen konnte er sie nicht. "Die Arbeit wäre sonst nicht zu schaffen, aber ich habe dafür am Jahresende eine Prämie erhalten. Das ist schon fair geregelt", sagt der 36-Jährige, den die Mehrarbeit an sich gar nicht stört: "Ich mache den Job gern".

Nick Kratzer vom ISF hat untersucht, warum Beschäftigte den Arbeitsdruck auf Dauer mitmachen. "Das hat einen stark kommunikativen Aspekt. Da spielen Gruppenzwang und Leistungskulturen eine Rolle", sagt der Soziologe. In einer Abteilung, in der alle zwölf Stunden am Stück arbeiten, fällt es schwer, als einziger früher nach Hause zu gehen.

Und manche wollen das gar nicht: "In den letzten zwanzig, dreißig Jahren hat sich in den Orientierungsmustern viel geändert. Vor allem die Jungen bringen den Anspruch in die Arbeit mit, sich selbst zu entfalten. Gleichzeitig akzeptieren sie den Marktdruck", sagt Kratzer. Natürlich sei es auch ein subjektiver Faktor, wie weit man die Arbeit als Entfaltung empfindet und wann das umkippt.

Ernst-H. Hoff, Psychologe an der FU Berlin, hat die Einstellungen von Beschäftigten in IT-Startup-Unternehmen untersucht. "Hier gilt die alte Aufteilung aus der Industriegesellschaft zwischen Arbeit und Privatem nicht mehr. Es gibt Beschäftigte, für die Arbeit gleich Freizeit gleich Leben ist. Sie leben gewissermaßen rund um die Uhr und wollen das auch", sagt Hoff. Andere sehen das nur als Übergangsphase. "Sie sagen: 'Das halte ich jetzt zwei, drei Jahre durch und wenn der Erfolg da ist, schränke ich die Arbeit wieder ein'". Wer sich wie weit einspannen lässt, ist eine individuelle Geschichte: "Das sind nicht nur extern auferlegte Zwänge. Natürlich muss man das einerseits tun, aber andererseits ist es auch individuell gewollt", sagt Hoff. "Im Augenblick stehen wir vor einem Übergang und einem Jugendphänomen. Es ist die Frage, wie viele das durchhalten können. Ob sie so weitermachen müssen, bis sie 50, 60 sind. Es wird einige auch lebenslang treffen und vielleicht wollen sie das auch", sagt Hoff.

Die Auflösung der Grenze zwischen Beruf- und Privatleben ist längst ein allgemeines Phänomen geworden. Beides verschränkt sich, wenn der Kollege zum Freundeskreis gehört, das Meeting abends am privaten PC vorbereitet wird und man sich in der Arbeit "auslebt" . Und doch bleibt ein Unterschied. "Auch wenn man sein Hobby zum Beruf machen kann, gibt es ein spürbar Anderes, ein Gefühl wirklicher Selbstbestimmung und Erholung. Wenn das zu wenig wird, spürt man das", sagt Nick Kratzer vom ISF. Für die Arbeitgeber kann das zum Problem werden: "Wenn sie die Mitarbeiter überfordern, führt das zu Krankheit. Das kann man zwar kurzfristig durch Unsicherheit eindämmen - daher sinken ja zurzeit die Krankenmeldungen - aber mittelfristig kann das auf die Unternehmen zurückschlagen", sagt Kratzer.

Was niemand erwartet hätte ist, dass die flexibleren Arbeitszeiten im Privaten zu mehr Stress führen. Vor allem Vollzeitbeschäftigte mit Familie geraten unter Zeitdruck. Wie die WSI-Umfrage zeigt, liegt das an der Unvorhersehbarkeit der Arbeitszeit, sowie an zu langen und ungünstig gelegenen Arbeitszeiten. "Der Aufwand ein funktionierendes Vereinbarkeits-Management zu betreiben ist sehr viel höher geworden. Die Anforderungen steigen und damit sind neue Leitbilder entstanden. Heute herrscht das Bild des 'Supermanagers des eigenen Lebens' vor, der nach dem Anspruch lebt: 'Du kriegst das alles auf die Reihe'", sagt Kratzer.

Für das Privatleben birgt der Arbeitsdruck viel Konfliktpotenzial. "Wenn Frauen Karriere machen, spielt das Egalitätspostulat eine größere Rolle in der Partnerschaft. Die Partner müssen sich bei Haushalt und Familiengründung mehr abstimmen", sagt Ernst-H. Hoff von der FU Berlin. "Es gibt Frauen, die sich um ihre Kinder kümmern, aber am liebsten arbeitszentriert weiterleben würden. Sie sind hin- und hergerissen und müssen zwischen beiden Welten stärker integrieren." Für die Zukunft erwartet der Psychologe, dass es in etlichen Berufen Frauen geben wird, die sich für die Arbeit und gegen die Familie entscheiden. Die hohe Kinderlosigkeit unter Akademikerinnen sei bereits ein erstes Zeichen dafür.

Hoff kann dem neuen Arbeitsdruck auch etwas Positives abgewinnen: "Durch die Konflikte zwischen Beruf- und Privatleben ist man stärker als früher dazu gezwungen, sich individuell klar zu machen, was man will."

Doch viele sind gar nicht in der Position, wirklich frei zu wählen. Wer eine Familie ernähren muss, tut sich schwer, sich gegen seinen Brötchengeber zu entscheiden. Und die Hoffnung auf einen gelungenen Kompromiss zwischen erfüllendem Job und ausreichend Privatleben haben manche bereits aufgegeben. "Den gibt's nicht" sagt Sabine Löhmann. "Vor allem nicht bei der jetzigen Arbeitsmarktsituation."

(*Name von der Redaktion geändert)

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