Amokläufe an Schulen:"Zeremonielle Selbsttötungen von langer Hand geplant"

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Bei den jüngsten Amok-Drohungen an nordrhein-westfälischen Schulen fällt auf: Auffällig oft sind Gymnasien betroffen. Ist der Leistungsdruck zu hoch? Ein Gespräch mit dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann.

Julia Bönisch

sueddeutsche.de: Der Amoklauf in Emsdetten vor einem Jahr fand zwar an einer Realschule statt, in Köln, Kaarst und Erfurt waren aber Gymnasien betroffen. Auch der Amoklauf in Finnland Anfang des Monats wurde von einem Abiturienten verübt. Werden Gymnasiasten tatsächlich öfter zu Tätern?

Hinweisschild zum Georg-Büchner-Gymnasium in Kaarst: Die Schule wurde wegen eines drohenden Amoklaufes geschlossen. (Foto: Foto: dpa)

Klaus Hurrelmann: Es ist in der Tat auffällig, dass Amokläufe häufig an Schulen mit einem sehr elaborierten Publikum stattfinden. Die Schüler stammen aus Mittelklasse-Milieus, sind gebildet. Ob tatsächlich immer wieder die gleiche Schulform betroffen ist, müsste man allerdings noch genauer untersuchen.

sueddeutsche.de: Kann der extreme Leistungsdruck an Gymnasien ein Grund dafür sein, dass die Schüler zu Amokläufern werden?

Hurrelmann: Mit solch einer Vermutung würde ich vorsichtig sein. Amokläufe haben keinesfalls mit einer bestimmten Schulform zu tun, sondern mit den Persönlichkeiten der Täter. Wir stoßen immer wieder auf den gleichen Schülertyp. Dieser fühlt sich nicht in dem Maß Wert geschätzt, wie er das nach eigener Einschätzung verdient hätte. Das kann aber von der Institution Schule gar nicht immer wahrgenommen werden, denn so ein Schüler bewegt sich an der Grenze zur psychischen Krankheit. Er kann nicht mehr unterscheiden, was geträumte und was wirkliche Realität ist. Dass Amokläufe an Gymnasien stattfinden, hängt meiner Meinung nach eher damit zusammen, dass Amokläufe immerhin sehr komplexe Taten sind.

sueddeutsche.de: Sie meinen, eine solche Tat erfordert eine gewisse Intelligenz?

Hurrelmann: Wenn Sie so wollen, ja. Mit Amokläufen sind immer auch Botschaften verbunden. Das sind zeremonielle Selbsttötungen, die von langer Hand geplant sind. Inzwischen können Amokläufer zwar ein gewisses Muster kopieren, doch die Planung und Umsetzung ist trotzdem aufwändig. Man kann zum Beispiel auch beobachten, dass die Taten vorher in Internetforen angekündigt werden.

Darüber hinaus sind sehr oft extrem selbstreflexive Schüler betroffen. Die sind verzweifelt, analysieren ihre Lage und verzweifeln darüber noch mehr. Die sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten dafür müssen erst einmal da sein.

sueddeutsche.de: Was können Schulen tun, um sich vor solchen Taten zu schützen?

Hurrelmann: Die Vorfälle sind kein Grund für Alarmismus. Dass der Amoklauf in Kaarst verhindert wurde, zeigt doch, dass die Schule hier etwas richtig gemacht hat. Schulen müssen eine Solidargemeinschaft schaffen, in die eine positive soziale Kontrolle eingebettet ist. Dann können Kinder einschätzen, dass sich ein Klassenkamerad außerhalb des Spektrums der Normalität bewegt. Wenn die Schüler dann noch merken, dass sie die Situation nicht mehr kontrollieren können und Lehrer oder Polizei einschalten, hat die Schule für ein gutes Umfeld gesorgt. Genau das ist in dem aktuellen Fall geschehen. Aber man kann von Lehrern nicht verlangen, gleichzeitig noch Psychologen zu sein, das können sie nicht leisten.

Klaus Hurrelmann ist Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld. Er beschäftigt sich vor allem mit den Themen Sozialisation, Schule, Familie, Sucht- und Gewaltprävention.

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