Ärzte, Schichten, Überstunden:Die geschlauchten Lebensretter

Lesezeit: 9 min

Ärzte auf Intensivstationen arbeiten bis an ihre Grenzen-wenn der Bundesrat jetzt über die so genannten Fallpauschalen abstimmt, könnte ihr Dienst noch schwerer werden.

Heidrun Graupner

(SZ vom 28.2.2002) München , 27. Februar - Ein gelber Teddybär sitzt auf dem Fensterbrett. Mit dem Rücken lehnt er an einem Bilderrahmen, sorgsam in Position gebracht, so sorgsam wie die Fotos im Rahmen verteilt wurden. Einen jungen Mann Anfang zwanzig zeigen die Fotos, immer den gleichen jungen Mann mit schwarzen, leicht gewellten Haaren, wachen Augen und mit einem verführerischen Lachen. Der Teddy schaut nicht auf den jungen Mann auf den Fotos, er schaut auf den jungen Mann im Bett, dessen Brust von der Beatmungsmaschine gehoben und gesenkt wird und der so wenig Ähnlichkeit mit seinem Abbild im Rahmen hat. Seine Augen sind geschlossen.Sein Gesicht sieht unversehrt aus, nur ein kleiner Verband verdeckt den Haaransatz. Runder, kindlicher als auf den Fotos wirkt das Gesicht- doch auch älter.

Arzt im OP (Foto: N/A)

Jan Pollak, Polytrauma nach Autounfall, Beinbruch, Lungenriss, Schädelhirntrauma, Hirnschwellung. Der Stirnknochen musste zur Entlastung des Gehirns operativ entfernt werden. Seit vier Wochen liegt Jan Pollak, der wie alle Patienten in dieser Geschichte einen anderen Namen hat, im tiefen, künstlichen Schlaf in der Intensivstation H 2 im Münchner Klinikum Großhadern.

Zehn der zwanzig Intensivbetten der Anästhesie stehen hier, für zwanzig Betten sind zwanzig Ärzte sowie zwanzig Pfleger und Schwestern zuständig, was nicht üppig ist, kalkuliert man Schichtdienst, Urlaub und Krankheit ein. Weit entfernt von den Besucherströmen liegt die H 2, ein roter, elektrischer Türöffner lässt ein in einen eigenen Kosmos, in ein Zwischenreich von Leben und Tod.

Button vom Bund

Es ist acht Uhr morgens, Schichtwechsel. Markus Niklas, der Arzt der Nacht, berichtet, wie sich der Zustand der Patienten in den vergangenen zwölf Stunden verändert hat, jedes Detail ist wichtig. Es war eine relativ ruhige Nacht, nicht zu vergleichen mit der Dramatik der vergangenen Nächte und Tage.

Jeden Morgen und Abend um acht Uhr ist Übergabe, denn seit Anfang Februar arbeiten die Ärzte der H 2 in Zwölf-Stunden-Schichten, aus denen aber meist 13 Stunden werden. Früher waren es durchgehend 24 Stunden und noch haben sie sich nicht an den neuen Rhythmus gewöhnt. Nun gelten in der Station H 2 eigene Gesetze. Keiner der Ärzte käme auf die Idee, mit einem Button des Marburger Bundes herumzulaufen, auf dem "Runter von der 80 Stunden Woche - den Patienten zuliebe" zu lesen ist.

Seit Oktober 2000, seit einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs, kämpft der Marburger Bund gegen die Überlastung von Krankenhausärzten, im März hat die Ärztegewerkschaft zu einem "Computer- Streik" aufgerufen, Papiere für die Verwaltung sollen dann nicht dokumentiert werden. Es ist ein Streik gegen Schichten von 24 oder 32 Stunden, wobei in vielen Kliniken der nächtliche Bereitschaftsdienst nicht als Arbeitszeit angerechnet wird, sondern unbezahlte Ruhezeit ist.

50 Millionen Überstunden schieben Klinikärzte vor sich her.

Noch nie, sagt der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, habe er eine solche Resonanz auf eine Aktion bekommen. Viele, die sich über unmenschliche Dienstpläne beschweren, wollen anonym bleiben, aus Angst, es könnte ihnen so gehen wie einem stellvertretenden Chefarzt des Städtischen Krankenhauses in Kiel. Er hat öffentlich protestiert und wurde seines Postens enthoben.

15.000 neue Arztstellen müssten in den 2242 deutschen Krankenhäusern geschaffen werden, um die 48-Stunden-Woche einzuhalten, die das Arbeitszeitgesetz vorschreibt. Eine Milliarde Euro würde dies kosten, eine Summe, von der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nichts wissen will, 200 Millionen Euro hat sie vorgesehen. Die Kliniken, so meinte sie schlicht, müssten sich eben reformieren und ihre Ärzte so einsetzen, dass Zeit für die Patienten vorhanden ist.

Vier Arbeitsgerichte haben mittlerweile den überanstrengten Ärzten Recht gegeben. Wie viel Geld die Krankenhäuser für neue Stellen erhalten werden, und ob sie künftig nach Fallpauschalen abrechnen müssen, wird der Bundesrat am Freitag entscheiden.

Visite auf Papier

Oberärztin Barbara Korpal sieht müde aus, als um 8 Uhr 30 die Visite beginnt, eine Visite ohne Patienten in einem kleinen, stickigen Zimmer. Niemals sprechen die Ärzte am Bett über den Zustand der Kranken, weil niemand weiß, welche Satzfetzen durch die Betäubung dringen. Es ist eine Visite auf Papier, das bei manchen Patienten zwei Leitzordner füllt.

Ärzte, Schwestern und Pfleger diskutieren über den Zustand der Kranken, mindestens eine halbe Stunde über jeden einzelnen, über jeden Laborwert, jedes Infektionszeichen, die Ernährung, die nächsten Behandlungsschritte. Alle wichtigen Werte haben die Ärzte im Kopf, einen Fehler in der Dokumentation finden sie sofort. Je mehr geredet werde, desto mehr entdecke man für die Behandlung, sagt Barbara Korpal.

Nur im Team sei diese Arbeit möglich, allein könnte sie diese Entscheidungen, in denen es um Leben und Tod gehe, nicht treffen. Oft werden Menschen gebracht mit den Worten, da könne man wohl nichts mehr machen. "Man kann etwas machen", sagt sie, im Team und ohne bürokratische Fesseln.

Dem Team ist es gelungen, das Leben von Karl Mayer zu erhalten. Vor zehn Tagen war er nach Großhadern verlegt worden, in der ersten Nacht geriet er in einen lebensbedrohlichen Zustand. Zu dritt kämpften sie bis vier Uhr morgens um sein Leben, dem Leitenden Oberarzt Lorenz Frey blieben zwei Stunden Schlaf bis zum Dienstbeginn. Karl Mayer hielt die Station auch an den folgenden Tagen in Atem. Mit einem Leck in der Lunge war er gebracht worden, mit jedem Atemzug wurde sein Körper wie ein Ballon aufgeblasen, die Luft floss schneller nach als man sie ableiten konnte. Dann versagte die Lunge völlig, er wurde an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Seither lebt er durch die High-Tech-Medizin, die Nieren und Lunge ersetzt.

Barbara Korpal war in diesen hektischen Tagen der "Hintergrund", ein Bereitschaftsdienst, an dem die Ärzte von 14 bis 20 Uhr auf Station sein müssen, und dann bis 7 Uhr zu Hause in Rufbereitschaft. Sie war mehr in der Klinik als zu Hause, morgens, wenn die Tagschicht begann, kam sie zu zwei, drei Stunden Schlaf.

Es ging in diesen Tagen nicht allein um Karl Mayer. Da war jene Patientin, die seit zwei Monaten auf der Station lag. Nach einer schweren Bauchoperation hatte sie ein Multi-Organ-Versagen erlitten. "Wir geben nicht auf," hatte Barbara Korpal noch vor zehn Tagen gesagt. Doch dann mussten sie aufgeben, alle Anstrengungen halfen nicht mehr. Es ist die zweite Tote in diesem Jahr. Und keiner in der Station kann den Tod einer Kranken, die wochenlang so intensiv behandelt und gepflegt wurde, einfach abschütteln. "Man geht nicht nach Hause und lässt alles zurück", sagt Barbara Korpal.

Keiner kann das. Keiner schaut auf die Uhr, nimmt bei Dienstschluss seinen Mantel und geht. Keiner redet von Ausbeutung.

Nun gilt auf der H 2 jeder Nachtdienst als Arbeitszeit, und die Stunden, die der Bereitschaftsdienst im Klinikum verbringt, gelten als Überstunden. Alle Dienste werden, im Gegensatz zu manch anderen Kliniken, dokumentiert. Niemand wird hier allein gelassen wie es anderswo geschieht, wenn ein Arzt nachts für alle Patienten zuständig ist oder ein Arzt im Praktikum für eine Intensivstation.

Ihrer 24-Stunden-Schicht trauern die Ärzte der H 2 nach. Sie empfanden sie zwar als sehr anstrengend, doch zwei Tage in der Woche waren frei, sie hatten mehr Zeit für die Familie - und für die Patienten.

Lorenz Frey kennt die Wünsche seines Teams, "aber das kann ich nicht verantworten". Auch die Zwölf-Stunden-Schicht entspreche nicht dem Arbeitszeitgesetz. Doch von einem Acht-Stunden-Tag hält niemand etwas, auch nicht Frey. Acht Stunden bedeuten noch mehr Übergaben, und bei jeder Übergabe gehen wichtige Informationen über die Patienten verloren. Die Visiten und die Dokumentation der Patientenunterlagen verschlucken mehr als die Hälfte des Tages, es blieben dann höchstens noch drei Stunden für die Patienten.

"Acht Stunden wären unverantwortlich", sagt Barbara Korpal, "sie würden das Niveau senken. Man kann nicht hetzen, man muss sich hinsetzen und nachdenken." Und da sich niemand vorstellen kann, dass mehr Leute eingestellt werden, hießen acht Stunden mehr Überstunden, noch mehr Dienst am Wochenende. Etwa 40 Überstunden haben sie jetzt schon im Monat.

Alarm im Dauerton

Der hektische Vormittag ist vorbei. Patienten wurden geröntgt oder zu Operationen gebracht, bei einem wurden alle Zugänge der Schläuche in den Körper neu gelegt, was fast zwei Stunden dauerte. Alle 72 Stunden ist so ein "Systemwechsel" fällig, um Infektionen zu kontrollieren.

In einem winzigen Raum sitzen die Ärzte zur Mittagsvisite zusammen. Durch eine Glasscheibe können sie auf die Patientenboxen schauen, auf einem Schreibtisch steht ein Monitor, der in einem Dauerton Alarm gibt, wenn Blutdruck oder Herzfrequenz eines Kranken in einen Grenzbereich gerät. Alle paar Minuten quäkt der Alarm, und Barbara Korpal richtet sich nervös auf. "Ist denn niemand bei den Patienten", ruft sie ungeduldig, "ich bin jetzt wirklich erledigt". Bald werden Angehörige kommen, die immer kommen dürfen, die Familie ist wichtig für die Patienten. Oft brauchen die Angehörigen selbst Hilfe, stehen fassungslos an einem Bett, können sich erst nach langen Gesprächen mit dem, was geschehen ist, auseinander setzen.

Auch der Krankenhauspfarrer Peter Frör ist wichtig. Mehrmals in der Woche geht er von Bett zu Bett und redet lang mit jedem Kranken. Niemand wisse, was sie empfänden, sagt er. Eine Patientin habe ihm später erzählt, sie habe geglaubt, sie schwimme in einer Nussschale nachts auf einem Ozean, und die Stimme sei ihr vorgekommen wie ein Leuchtturm. Für viele Patienten ist die Intensivstation eine traumatische Erfahrung. Viele haben Albträume. Ein Kranker träumte, man habe ihn auf ein Brett geschnallt und in den Schnee gelegt, wilde Hunde wollten ihn zerfleischen wie im alten Rom.

Nichts von all dem steht in den unbewegten Gesichtern der Patienten, die hinter den roten, grünen und gelben Rollos liegen. Nie ist es ruhig, immer ist das Motorengeräusch und das Piepsen der Geräte da. Bei einem Kranken spielt Radiomusik. Die Schwestern haben das Radio während ihrer Arbeit angestellt und es laufen lassen. Töne aus dieser Welt für jene, die aus dem künstlichen Schlaf aufwachen sollen, ganz langsam, damit sie keine Entzugserscheinungen bekommen, nach den hohen Gaben von Opiaten 60 oder 100 Tage lang.

"Hat eine Intensivstation nicht eine eigene Ästhetik?", fragt Lorenz Frey, "die Art der Pflege, wie die Schwestern die Kranken ruhig waschen, salben und betten, wie sie mit ihnen sprechen?" Er amüsiert sich über die Kliniksoaps im Fernsehen, in denen Ärzte in wehenden Kitteln und Schwestern in Miniröcken durch die Gänge rasen.

Hektik entsteht auch nicht, als ein ernster Alarm ertönt. Es ist die Herz-Lungen-Maschine. Frey blickt auf die Maschine und auf Karl Mayer und ruft der Schwester zu: "Den Kopf nach unten!" Und sie schwenkt das Bett aus der Waagrechten. Dann windet sich Frey zwischen den Maschinen durch und kontrolliert einen der zehn Schläuche, die im Körper verankert sind. Der Alarm ist gestoppt, das Gesicht des Kranken verliert die blaue Farbe. "Eine Kanüle hat sich angesaugt," sagt Frey. Wenn in einem solchen Moment niemand anwesend sei, dann werde es gefährlich. Seit die Maschine im Einsatz ist, müssen immer zwei Ärzte in der Station sein. Ein Bett wird seither wegen der aufwändigen Pflege nicht mehr belegt, weil es zu wenig Schwestern und Pfleger gibt, ein Drittel der Planstellen ist nicht besetzt.

"Wenn es uns nicht geben würde, wären viele gestorben," sagt die Stationsschwester Adele Varenhorst. Alle Schwestern wissen, dass sie Besonderes leisten. Doch gehen immer weniger in die Intensivpflege, weil sich die drei Jahre Fachausbildung finanziell kaum lohnen. 1200 bis 1400 Euro netto bekommen sie. Davon, sagen die Pfleger, könnten sie keine Familie ernähren. Und es ist ein Knochenjob mit viel Verantwortung, mehr, als manchen lieb ist.

Marknagel am Morgen

Bei den Ärzten existiert noch kein Mangel, jedenfalls nicht in diesem Universitätsklinikum und in dieser Station.

Doch die Bewerbungen nehmen ab, weil Arbeitsbedingungen und Verdienst in der Industrie so viel besser sind. 2500 bis 3000 Euro brutto beträgt das Tarifgehalt für Assistenz- und Oberärzte. Wenn es mehr ist, dann kommt das Geld aus den Privateinnahmen des Chefarztes. Die Ärzte der H 2 bezeichnen ihren Verdienst als "grotesk", in ihrer kargen Freizeit verdingen sich manche als Notärzte, um 250 oder 500 Euro dazu zu verdienen. Trotzdem bleiben sie, lehnen üppige Angebote von Pharmaunternehmen ab.

Lorenz Frey fragt sich allerdings, wie lange sich Kliniken überhaupt noch den Luxus von Intensivstationen leisten können, für so wenige Patienten und in einer Krankenhauslandschaft, die durch die Einführung der Fallpauschalen zu noch mehr Wettbewerb gezwungen wird.

Einige Fallpauschalen existieren in Großhadern bereits, für eine Bypass-Operation etwa zahlen die Kassen eine Pauschale von 14.000 Euro, die ersten neun Tage Intensivstation inbegriffen. Wenn aber der Patient für 30 oder 60 Tage in der H 2 liegt, dann trägt die Klinik die Kosten. Nun verschlingt die Behandlung von Karl Mayer an der Herz-Lungen-Maschine täglich 5000 Euro, ein anderer Kranker erhält ein Medikament, das 4000 Euro am Tag kostet.

"Intensivstationen sind ein schlechtes Geschäft für die Kliniken", auch wenn 65 Prozent der Patienten, die so daliegen wie Karl Mayer, wieder arbeitsfähig werden. Frey fürchtet, dass diese Spitzenmedizin auf ein niedriges Niveau gebracht, dass sich die Bettenknappheit verschärfen wird. "Noch", sagt Frey, "kann ich meine Entscheidungen aus medizinischen Gründen fällen und nicht aus wirtschaftlichen. Doch nur so kann ich Leben retten."

Markus Niklas kommt schon um 19 Uhr 30 zum Nachtdienst. Es wird wahrscheinlich keine ruhige Nacht. Eine Patientin mit einer transplantierten Lunge fiebert. Abstoßungsreaktion? Infektion? Ein Medikament darf nicht mehr verschrieben werden, weil es zu teuer ist, und Niklas ärgert sich darüber. Jan Pollak muss nüchtern bleiben, weil Morgen sein gebrochenes Bein mit einem Marknagel fixiert wird. Schon vergangene Woche wurde er operiert, den Stirnknochen hatten die Chirurgen einsetzen wollen, den sie tiefgefroren hatten. Doch dann stieg der Hirndruck bedrohlich an, der Knochen musste wieder entfernt werden. Verwenden kann man ihn nicht mehr, Jan Pollak wird eine Stirnplatte aus Titan erhalten, irgendwann einmal.

Wie vor zwölf Stunden liegt Jan Pollak in seinem Bett, kindlich und doch alt, die Lippen fest geschlossen. Der gelbe Teddy auf dem Fensterbrett wurde in der Hektik des Tages umgeworfen. Er liegt auf dem Rücken, die Pfoten in die Höhe gestreckt, als riefe er um Hilfe. Man kümmert sich auch um ihn in der Nacht. Am Morgen sitzt er wieder neben dem Bilderrahmen und schaut auf das Bett.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: