Wolkenkratzer:Turm und Drang

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In arabischen Emiraten, Taiwan, Russland, in den USA sowieso: Überall auf der Welt werden Hochhäuser errichtet. Soll Europa dem weltweiten Boom nachgeben?

Gerhard Matzig

Die Welt der Wolkenkratzer besteht aus Vernunft und Affekt, aus Sehnsucht und Zahlen. Die globale Himmelfahrt der Architektur wird vor allem von den Kräften der Physik und der Ökonomie betrieben - und von jenen der Psychologie. In polemischer Absicht hat Hans Hollein einmal ein Hochhaus in Form eines Phallus vorgeschlagen.

Bis 2008 mit mehr als 500 Metern noch Rekordhalter: das Taipei Financial Center. Zur Vollansicht bitte auf Lupe klicken (Foto: Foto: AP)

Hochhäuser, meint er, entstehen nicht nur auf teuren, also möglichst effektiv auch in der Höhe auszunutzenden Grundstücken oder aufgrund technischer Machbarkeit - sondern auch durch triebhafte Irrationalität. In den stadträumlichen Erektionen bilde sich eine Gesellschaft ab, deren bevorzugtes Liebesspiel "Monopoly" heiße.

Tatsächlich sieht die Welt, nimmt man "Google Earth" als Software zur Darstellung eines virtuellen Globus zu Hilfe, zunehmend wie ein Monopoly-Spielbrett aus, dessen Häuser immer schneller und höher wachsen. Etwa in Dubai: Dort stemmt sich der "Turm von Dubai" in die Lüfte. Im November 2008 soll das "höchste Haus der Welt" vollendet sein. Aus der Höhe wird ein fast lächerliches Geheimnis gemacht. Schätzungen gehen von 800 Metern aus. Damit überragt der "Burj Dubai" den aktuellen Rekordhalter, das Taipei Financial Center, gleich um 300 Meter.

Sprunghaft wächst die Zahl der höchsten Häuser. In New York, Geburtsstätte des Wolkenkratzers als Bautyp des 20. Jahrhunderts, stehen 140 Gebäude, die höher als 150 Meter sind. In Hongkong, das diese Bauform erst sehr viel später erprobt hat, existieren schon jetzt an die 40 Bausuperlative. Fast monatlich werden - vor allem in Taiwan und China, Malaysia und Indonesien, Thailand und Singapur, in Japan, Australien und Afrika - Baustellen wie Startrampen eröffnet: mit Blick nach oben. In Moskau soll Norman Foster "Moscow City" - ein Areal für 100.000 Menschen und 20 Wolkenkratzer - mit einem Superwolkenkratzer bekrönen, um die "Größe Russlands" in 600 Meter Höhe zu beschwören.

Die 4000-Meter-Marke

Die närrische Gleichung "Größe = Höhe" wird überall angewendet: Im Jahr 2007 wird das "höchste bewohnte Bauwerk" in China stehen: das Shanghai World Center. In Schanghai soll auch der "Bionic-Tower" errichtet werden, 1125 Meter hoch. Und es kursieren schon seit Jahren Fantasy-Pläne für den "X-Seed". Das vier Kilometer hohe Gebäude würde, errichtet auf einer künstlichen Insel, eine Million Menschen beherbergen.

Nach den Attentaten auf das World Trade Center wurden in aller Welt Nachrufe auf den "Skyscraper" verfasst. Der hat sich seit 1870 zunächst in den USA entwickelt, ist aber vom Bautyp her - als "Wohnturm einer Idealstadt" - seit dem 17. Jahrhundert auch in Europa bekannt. Schon die Geschlechtertürme, die bis zum 15. Jahrhundert in Mittelitalien errichtet wurden und die Stadtsilhouetten von Bologna oder San Gimignano prägen, gelten als Vorläufer.

Es scheint ein Bau-Gen für die Höhe zu geben. Kein Wunder also, dass die Evolution der hohen Häuser nicht am 11. September 2001 gestoppt werden konnte. Schon zum Zeitpunkt der implodierenden WTC-Zwillingstürme existierten Pläne für neuere, höhere Türme. Es war nur eine Frage der Trauerzeit, bis man sie umsetzte.

Der Architekturtheoretiker Martin Pawley ist einer der prominentesten Fürsprecher der Hochhaustechnologie. Pawley schreibt in einem Aufsatz zur "Psychologie von hohen Türmen": "Es gibt inzwischen keine technische Grenze mehr, die es verbieten würde, hoch zu bauen." Vor allem aber: "In naher Zukunft kann ein Bauwerk mit 90 Geschossen mit der Hälfte der Energiekosten eines achtstöckigen Bürokomplexes herkömmlicher Bauart auskommen."

Früher oder später, so Pawley, würden nicht mehr einzelne Häuser, sondern ganze Wolkenkratzer-Städte in die Höhe wachsen. Das ahnt er zumindest für die Städte und Länder mit ¸¸unternehmerischem Geist" vorher: "Der neue Wolkenkratzer ist ein Wunder an Macht, Technologie und Kunst. Wer sollte etwas dagegen haben?"

Nun, zum Beispiel die Stadt Passau. Das ostbayerische Städtchen spielt schon seit einigen Tagen (SZ vom 29.7.) die Rolle des gallischen Dorfes, das dem Eindringling - dem weltweiten Furor der Hochbaukunst - Widerstand leistet. Seit in Passau ein nur 38 Meter hohes, die Kernstadt gleichwohl klumpig überwältigendes Hochhäuschen ausgerüstet wurde, tobt dort ein Krieg der Leserbriefautoren gegen Investor und Stadtspitze.

Wie mit Händen ist hier jener berechtigte Argwohn zu greifen, der sich in Deutschland seit langem gegen das metropolenhafte Geschwurbel, gegen den "Schrei nach dem Turmhaus" richtet. Bruno Taut sprach im Jahr 1929 vom Hochhaus als "amerikanischem Anzug", dem man die "architektonische Einzigartigkeit unserer Städte nicht opfern" dürfe. Das gilt noch immer. Nur ist aus dem amerikanischen Anzug ein asiatisches Tuch geworden - und aus Deutschland Europa.

In Wien, wo man sich durch die Ostöffnung plötzlich in Konkurrenz zu Prag oder Budapest sah, wurde ein "Hochhauskonzept" beschlossen - das nun bekämpft wird. In Paris will man die Wohnungsnot mit "Wohntürmen" abseits der berüchtigten Banlieue lindern - und wird dafür ausgebuht. In Köln hat sogar die Unesco eingegriffen, um die Pläne für neue Wolkenkratzer zu verhindern. In München darf es keine Hochhäuser geben, die höher wären als die Frauenkirche: 99 Meter.

Der Passauer Volksaufstand ist demnach so oder ähnlich in etlichen europäischen Städten, in kleineren wie größeren Gebilden, zu beobachten. Im jeweiligen Maßstab (nichts anderes unterscheidet das hohe vom niedrigen Haus) ist die Auseinandersetzung überall dort anzutreffen, wo das über Jahrhunderte tradierte Leitbild der "europäischen Stadt" gegen die Zumutungen der vertikalen Stadt zu verteidigen ist.

Europa, dessen höchstes Bürogebäude 259 Meter misst (Commerzbank, Frankfurt am Main), muss sich gleichwohl fragen, ob es die Zukunft der Stadtentwicklung zu Unrecht verschläft - oder ob es die Vergangenheit seiner Stadtbaukunst zu Recht verteidigt: Bis zum Jahr 2035 werden laut UN-Studien zwei Drittel der Weltbevölkerung in stetig wachsenden, auch in die Höhe verdichteten Städten leben.

Von Superwolkenkratzern umstellt

Globale Zeiten bedeuten aber auch globale Städtebauprobleme: Wenn die Welt näher zusammenrückt, wird Europa irgendwann von Superwolkenkratzern umstellt sein wie von einem Staketenzaun. Schon heute muss man sich also - abseits solcher Grotesken wie in Passau - fragen, ob höhere Häuser eine Antwort auf die Zukunft sein könnten.

Es gibt eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Nur geht sie meistens unter in den üblichen, leider viel zu holzschnittartigen Hochhausdebatten europäischer Machart, die nur "Hochhausfetischisten" oder "Hochhausfeinde" kennen. Die Antwort lautet: Ja, auch Europa muss über vertikal verdichtete Städte nachdenken. Gründlicher womöglich als andere Kontinente. Schon aus ökologischen Gründen: Die spürbar endlichen Energie-Ressourcen werden uns schon bald die nur scheinbar selbstverständliche Mobilität und somit auch die geübte Trennung von Suburbia und Kernstadt zunichte machen. Städtische Konzentration ist die Folge.

Und hier kommen notwendigerweise höhere Häuser ins Spiel: komplexere Häuser, die durch ihre bauliche Dichte und Erschließbarkeit - siehe Pawley - nur Bruchteile der Energiekosten ausweisen, die in niedrigen oder gar vereinzelten Häusern anfallen. Zu schweigen vom energiepolitischen Wahnsinn des Siedlungsbreis.

Sinn für die Vertikale als Lebensraum

Hochhäuser, auch solche zum Wohnen, werden also kommen. Gewiss nicht als 4000 Meter hohe Utopien, wohl aber mit einer pragmatischen Höhe von 40, 50 oder 60 Metern. Je nach Inhalt, Stadtgröße und - vor allem! - Stadtverträglichkeit. Erste Studien, die für dieses europäische Minimaß der Höhe sprechen, gibt es. Was uns aber in Passau und anderswo fehlt, ist das, worauf Louis Sullivan, der "Vater der Wolkenkratzer" (1856-1924) einst hingewiesen hat: "Wenn die architektonische Vorstellungskraft fehlt, ist die Sache hoffnungslos."

Wenn Europa nicht zur Altstadtmuseumsinsel der asiatischen Welt werden und sich zugleich sein ungewöhnlich reiches Stadtkulturerbe auf vitale Weise bewahren möchte, muss es sich mit der Frage des Höhengewinns beschäftigen: abseits zwar der ökologisch wie ökonomisch unsinnigen Superwolkenkratzer - aber dennoch mit Sinn für die Vertikale als Lebensraum.

© SZ vom 9. August 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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