Verschuldet in Deutschland:Pleitestadt Pirmasens

Lesezeit: 5 min

In dem einstigen Zentrum der Schuhindustrie haben mehr Menschen Probleme mit Schulden als irgendwo sonst in Deutschland. Und viele Einwohner finden keinen Weg in die Zukunft.

Hannah Wilhelm

Petra Kaiser hat Schulden: 4500 Euro. Das ist viel, wenn man sie vom Arbeitslosengeld abstottern muss. Und arbeitslos ist Petra Kaiser immer wieder. Die 45-Jährige mit den großen Augen, die in Wahrheit anders heißt, hat mit Anfang 20 das erste Mal den Job verloren. Dann bekam sie drei Kinder vom falschen Mann, der sie bald ohne einen Cent sitzenließ. Sie kaufte auf Kredit: Möbel, Klamotten für die Kinder und was sie eben für nötig hielt.

(Foto: Foto: dpa)

Die gelernte Sekretärin sucht ja nach Arbeit. Manchmal findet sie einen Aushilfsjob, "aber wenn ich gerade anfange, an meinen ersten kleinen Urlaub zu denken, werde ich wieder entlassen". Petra Kaisers Geschichte ist typisch für ihre Heimatstadt Pirmasens.

Es gibt viele solcher Leben in dem Städtchen im Südwesten der Pfalz, in dem ein höherer Anteil von Menschen seine Rechnungen nicht bezahlt als überall sonst in Deutschland. Nirgendwo in der Bundesrepublik ist das Verschuldungsproblem so groß. Pleitestadt Pirmasens, die vergessene Größe: Wer heute mit der Bahn hierher fahren möchte, wird gerne barsch gefragt: "Wie heißt die Stadt? Schreibt man das mit y?"

Vollbeschäftigung - vor Jahrzehnten

Das war mal anders. "Pirmasens war ein Begriff in der Welt, wir waren die Schuhmetropole", klagt Petra Kaiser und verschwindet mit ihren Gedanken in den alten, den besseren Zeiten. In ihrer Kindheit und Jugend in den sechziger und siebziger Jahren herrschte hier fast Vollbeschäftigung.

Wer Arbeit hatte, hatte sie fast immer in der Schuhindustrie. Doch in den vergangenen drei Jahrzehnten verloren mehr als 27.000 von 32.000 Arbeitnehmern in dieser Branche ihre Beschäftigung. Dann zog auch noch das amerikanische Militär ab. Zwei Katastrophen für eine Stadt mit 42.000 Einwohnern. Die Arbeitslosenquote stieg teilweise über 20 Prozent.

Die Zeit ist mit großen Schritten an Pirmasens vorübergezogen. Hinterlassen hat sie enttäuschte Menschen wie Petra Kaiser, Menschen, die sich verschulden. Einer von fünf Einwohnern von Pirmasens hat Zahlungsschwierigkeiten oder hat sich schon hoffnungslos verschuldet. Das sind fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Pirmasens ist deutscher Meister im Schuldenmachen. Die örtlichen Schuldnerberater schieben Überstunden.

"Meine Tochter fragt oft, was mich hier noch hält", sagt Petra Kaiser und schüttelt den Kopf, "aber sie hat die schöne Zeit in Pirmasens nicht miterlebt." Wer die Stadt in ihrer Blüte gekannt hat, tut sich schwer zu gehen. Damals waren die Straßen voller Menschen. Abends ging man ins Kino oder essen ins Hotel Matheis, das beste Haus am Platz.

In der schneeweißen Gründerzeit-Villa stiegen während der Schuhmessen die internationalen Gäste ab. Früher. Dann blieben die Gäste weg. In den neunziger Jahren fanden hier Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien Unterkunft. Als auch noch die verschwanden, verfiel das beste Haus am Platz. Heute sind Fenster und Türen mit Holzbrettern vernagelt. Aus dem Dach wächst ein Baum. Eine von vielen Ruinen, die auf die Psyche der Pirmasenser drücken.

Der einstige Glanz lähmt die Einwohner. "Unsere Stadt ist auf sieben Hügeln gebaut, wie Rom", schwärmen Menschen, die vor Fabrikruinen ohne Fensterglas stehen. Es gibt andere Städte mit mehr Arbeitslosen, zum Beispiel Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern.

Mehr verdient als man bekommt

Doch dort verschulden sich die Menschen weniger stark als die Pirmasenser, die sich offenbar das Leben von früher leisten wollen, ohne es sich leisten zu können.

"Die Menschen hier verschulden sich ohne nachzudenken, sie sind leichtfertiger als andere", sagt der Schuldnerberater Gerhard Kölsch, der Petra Kaiser berät. "Erstaunlich viele schließen einen zweiten oder dritten Handyvertrag ab und bestellen beim Versandhandel, obwohl sie schon längst pleite sind."

Das Ergebnis: Verglichen mit dem Bundesdurchschnitt zahlen fast doppelt so viele Pirmasenser ihre Handyrechnungen oder Versandhausschulden nicht.

Jeder zehnte Einwohner meldet in Pirmasens Privatinsolvenz an, den früheren Offenbarungseid. Im Bundesdurchschnitt ist es nur jeder zwanzigste. So landet die Stadt bei der Schufa-Studie zur privaten Verschuldung seit Jahren auf dem letzten Platz.

Verschuldung: Bürger in der Fall (Foto: Grafik: SZ)

Überall in der Stadt ist das Gefühl spürbar, dass man etwas Besseres verdient hätte, als man bekommt. Und dass es nicht in der eigenen Hand liegt, die Verhältnisse zu ändern. Es sei so ungerecht, dass die Schuhindustrie Anfang der achtziger Jahre eingegangen oder in Billiglohnländer abgewandert sei, hört man in Pirmasens allerorts.

In der Innenstadt wartet ein Mittfünfziger auf den Bus. Er hat kürzlich nach 35 Jahren seinen Job bei einem Zulieferer der Schuhindustrie verloren. "Mir tut's im Herzen weh, wenn ich die Fabrik sehe. Jedes Mal tut's mir im Herzen weh", erzählt er traurig und wiegt seinen Kopf. In den Osten Deutschlands hätte er gehen können, da gab es eine Stelle für ihn. "Aber wer will schon in den Osten?", fragt er. Lieber harren er und die anderen Pirmasenser aus und warten auf bessere Zeiten. Der Bus kommt nicht. Hinter dem Rücken des Mannes liegen leerstehende Geschäfte. Und ein Kino, das schon seit Jahren keine Filme mehr zeigt.

"Früher konnten wir uns aussuchen, in welcher Fabrik wir arbeiten wollten", erzählt Petra Kaiser. Beide Eltern arbeiteten für die Schuhindustrie, der Vater war Zuschneider, die Mutter Stepperin. "Es war keine Frage, dass ich meine Ausbildung zur Bürokauffrau auch bei einer Fabrik machte." So dachten viele Pirmasenser. Sie schickten ihre Kinder nur auf die Hauptschule, damit die möglichst schnell arbeiten gehen konnten. Bildung brauchten die Fabriken nicht. Also brauchte sie Pirmasens nicht.

Viele Schüler ohne Abschluss

Heute finden am ehesten Höherqualifizierte Arbeit. Doch noch immer schicken überdurchschnittlich viele Eltern ihre Kinder auf die Hauptschule. Und viele Kinder bleiben ganz ohne Abschluss. Als kämen sie immer noch mit wenig Bildung aus wie früher. Diese Einstellung verschlechtert ihre Chancen am Arbeitsmarkt. Und sie trägt zur Verschuldung bei. Die Statistik zeigt, dass sich Menschen mit geringerem Bildungsgrad überdurchschnittlich häufig verschulden.

In den Wohnungsfenstern der Innenstadt buhlen zahlreiche Plakate um potenzielle Mieter. In der Stroblallee dagegen ist alles ausgebucht. Die Straße schlängelt sich an einem der sieben Hügel entlang. Es ist eine der schönsten Ecken der Stadt.

Wer in einer der Gründerzeit-Villen wohnt, blickt über die bewaldeten Hügel der Umgebung und kann in den benachbarten Parks spazierengehen. Hier wohnen die ehemaligen Fabrikbesitzer. "Pirmasens hat mehr Millionäre als jede andere Stadt in Rheinland-Pfalz", ist überall zu hören. "Die haben doch ihre Fabriken ins Ausland geschafft, nach Asien, und sitzen jetzt auf ihrem Geld", flucht ein Taxifahrer und gibt Gas, als wolle er der Allee entfliehen. Den Fabrikarbeitern sei nichts geblieben, sagt er.

Oberbürgermeister Bernhard Matheis versteht die Unzufriedenheit mancher Bürger nicht. "Natürlich konnten die verlorenen Stellen bisher nicht ersetzt werden", räumt er ein. Selbstverständlich sei die Lage alles andere als rosig. Aber der CDU-Politiker möchte, dass die Pirmasenser ihre Stadt wieder mögen.

Also baut er Industrieruinen zu Kulturzentren um, eröffnet ein neues Museum namens Dynamikum, bemüht sich um die Ansiedlung neuer Unternehmen und unterstützt die städtischen Schuldnerberater. "Wir sind auf einem guten Weg", schwört er, "und eine positive Einstellung zur Zukunft ist doch der Schlüssel zum Erfolg."

Petra Kaiser tut sich schwer, ihre Zukunft positiv zu sehen. Sie muss ihren Kindern erklären, dass wegen der Schulden eine Klassenfahrt nach Rom für 800 Euro nicht drin ist. Nächstes Jahr will sie ihre letzte Schuldenrate abstottern. Endlich. Aber arbeitslos ist sie weiterhin. "Am liebsten wäre ich Postbotin. Den ganzen Tag an der frischen Luft und viel Kontakt mit Menschen." Zum ersten Mal schafft es ein Lächeln bis in ihre Augen.

"Aber ich habe keine Chance, es gibt keine freie Stellen", sagt sie. Ihr Blick wandert aus dem Fenster der Schuldnerberatung auf den Exerzierplatz, früher das Zentrum der Stadt. Das Ende des Platzes dominiert ein Betonklotz mit der Aufschrift Kaufhalle. Er steht leer. "Ich weiß nicht mehr genau, seit wann", sagt Petra Kaiser. "Ich glaube, seit zehn Jahren."

© SZ vom 5.3.2008/hgn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: