Schweiz: Bankgeheimnis:Der Revierhüter

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Jean-Marie Musy hat das Schweizer Bankgeheimnis erfunden - vor genau 75 Jahren trat es in Kraft. Der Rechtsanwalt und Finanzpolitiker sympathisierte offen mit den Nazis.

Willi Winkler

Wilhelm Tell hat mit einem einzigen Bolzenschuss die Schweiz begründet, aber erst Jean-Marie Musy verschaffte ihr den Ruf als Banktresor der ganzen Welt. Während es bei Tell um Leben und Tod geht und es überall vom Tyrannenmord wetterleuchtet, sind von dem staubtrockenen Finanzokraten Musy nur so unsterblich öde Formulierungen wie diese überliefert: "Wer vorsätzlich als Revisor oder Revisionsgehilfe die ihm bei der Durchführung einer Revision oder bei der Abfassung oder Erstattung des Revisionsberichtes obliegenden Pflichten gröblich verletzt (...) wird mit Buße bis zu zwanzigtausend Franken oder Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft."

Doch auch wenn die Prosa von Bundesrat Musy nicht ganz an den Freiheitspathos von Friedrich Schiller heranreicht, die Schweiz verdankt ihm in Gestalt dieses Artikels 47 die Formulierung des weltweit einmaligen Bankgeheimnisses. In einer bemerkenswert offenherzigen Geschichte hat jetzt der Zürcher SonntagsBlick die Geschichte des Mannes recherchiert, der vor 75 Jahren mit ein paar Sätzen die Schweiz zur schier uneinnehmbaren Finanzfestung machen konnte.

Der 1876 im Greyerzerland geborene Rechtsanwalt Musy trat erst mit 35 in eine Bank ein - passenderweise, um sie zu sanieren. Gleichzeitig beginnt er eine Laufbahn als Politiker, engagiert sich bei der Partei der Katholisch-Konservativen und gelangt mit ihr alsbald in den Bundesrat, dem er von 1925 bis 1930 als Bundespräsident vorsteht. Nebenbei erregt er Aufsehen mit einer ebenso exzentrischen wie verschwenderischen Ehefrau. Am 2. Februar 1934 bringt Musy, inzwischen nur mehr einfacher Bundesrat, jenen Gesetzesvorschlag ein, der fortan alle am Geldverkehr Beteiligten bei Gefahr harter Strafen zum ewigen Schweigen verpflichtet. Das Gesetz wird am 8. November 1934 vom Nationalrat mit 119:1 Stimmen verabschiedet und tritt am 1. März 1935 in Kraft.

Im Groll aus dem Amt

Musy ist da schon nicht mehr dabei. Im Groll ist er aus dem Amt geschieden. Nicht wegen seines Gesetzes, sondern weil er in einer Kleinigkeit eine Niederlage erlitten hatte, zieht er sich auf seine Güter zurück, er will privatisieren, jagen und ein bisschen malen. Dafür erringt sein Sohn Pierre, ältestes der sieben Kinder, 1936 bei den Olympischen Winterspielen in Garmisch die Goldmedaille im Viererbob.

Die Politik lässt den Vater aber nicht los. Mit Staunen und nicht ohne Neid erlebt er, wie sich im großen Nachbarland im Norden die Nationalsozialisten durchgesetzt haben. Musy sympathisiert ganz offen mit den Nazis. Er gründet eine Zeitung, La Jeune Suisse, er finanziert einen antikommunistischen Propagandafilm ("Die rote Pest"), bewundert Franco und Mussolini und er freundet sich mit Herrschaften wie Heinrich Himmler an, dem Reichsführer SS.

Diese Nähe zu den Nazi-Machthabern erweist sich bald als Vorteil. Dem politisch unverdächtigen Musy gelingt es, für eine jüdische Familie zu intervenieren, deren Angehörige in Frankreich bereits zum Abtransport nach Auschwitz eingeteilt sind. Im Sommer 1944 wendet sich Isaac Sternbuch von der orthodoxen jüdischen Rettungsorganisation Vaad Hatzalah an Musy und bittet ihn um einen noch größeren Gefallen: Er soll Juden aus Deutschland herausholen. Musy reist nach Berlin, nach Breslau, nach Wien, trifft sich mit Himmler und dessen Gefolgsleuten und verhandelt.

Zwischen Verzweiflung und Größenwahn

Der Hauptverantwortliche für den industriellen Judenmord schwankt zwischen Verzweiflung und Größenwahn. Von Osten droht die auch Musy als Schreckgespenst bekannte Rote Armee, im Westen marschieren die Alliierten auf Deutschland vor. Himmler ist zu Konzessionen bereit, denn er hofft, sich mit diesem Einsatz in letzter Minute bei den Siegern einzuschmeicheln. Halb und halb informiert er Hitler, verlangt fünf Millionen Franken erst für Maschinen, für Lastwagen, dann für Medikamente, will das Versprechen, dass sich unter den Besatzungsregimentern ganz bestimmt keine "Neger" befinden werden.

Es wird ein harter Handel wie unter Geschäftsleuten, die bis zum Letzten feilschen. Musy muss eine Bankvollmacht beibringen, dass ihm tatsächlich fünf Millionen Franken zur Verfügung stehen, und er muss garantieren, dass die Häftlinge in die USA weiterreisen und auf keinen Fall nach Palästina, da Himmler dafür bei seinem arabischen Bundesgenossen Mohammed Amin al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, im Wort ist.

Musy nimmt natürlich Geld für seine Dienste, aber er kann sich auch durchsetzen. Am 5. Februar 1945 verlässt ein Zug mit 1200 Menschen das KZ Theresienstadt in Nordböhmen und fährt über Nürnberg nach Konstanz, wo die Gestapo ihre "Beute" tatsächlich in die freie Schweiz ziehen lässt. Er könne, versichert Himmler seinem Schweizer Geschäftspartner, alle 600.000 noch in Deutschland lebenden Juden freilassen, Hitler hätte nichts dagegen. Für den israelischen Historiker Yehuda Bauer war das "der letzte verzweifelte Versuch Himmlers und seiner Leute, sich und vielleicht ein Minimum ihres Ansehens aus den Trümmern des zusammenbrechenden Reiches zu retten". Als die Zeitungen in der Schweiz und auch im neutralen Schweden über diese Aktion wie von Himmler gewünscht berichten, ist es mit dem Rettungsunternehmen auch schon wieder vorbei. Hitler verbietet weitere Tauschaktionen und bereitet den Untergang vor.

Engel gibt es vielleicht im Himmel, auf der Erde werden sie allenfalls versteinert neben efeuüberwucherten Gräbern beobachtet. Der Finanzpolitiker Jean-Marie Musy, der 1952 starb, war bestimmt keiner, aber er hat mehr als 1200 Menschen das Leben gerettet.

© SZ vom 01.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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