Libeskind in der Schweiz:Ganz schön auf Zack

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Ausgerechnet im eher gemächlichen Bern hat der Star-Architekt Daniel Libeskind ein außergewöhnliches Einkaufszentrum gebaut.

Von Gerd Zitzelsberger

Die Schweizer lieben Tunnels. Sie finden sogar Gründe, in die Tiefe zu bohren, wenn sich gerade mal kein Berg in den Weg stellt. In Bern ist gerade die neueste Variante dieser landestypischen Bauweise zu besichtigen: Das Projekt "Westside" wurde über einer Autobahn errichtet, die nun im Tunnel unter dem Gebäude verschwindet. Auf Neu-Schwyzerdütsch ist es ein "Urban Entertainment Center", ein Einkaufszentrum mit Spaßbad, Kinos, einem Fitnesspark und einer benachbarten Seniorenresidenz.

Projekt "Westside": Die verschachtelten, mit Robinienholz und Aluminium verkleideten und teilweise schräg gestellten Kuben sind ein Blickfang allererster Güte. (Foto: Foto: oh)

Entworfen hat das Westside der polnisch-amerikanische Städteplaner Daniel Libeskind. Der Mann also, der das Rechtwinklige verachtet und seit der Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin vor zehn Jahren als Architekturstar gefeiert wird. Nach einer Reihe von Museumsbauten ist der Auftrag in Bern sein erstes Objekt für die Konsumgesellschaft. Zumindest die Auftraggeber sind beeindruckt: Die Stadt, bisher vor allem für ihren Bärengraben und die mittelalterliche "Zytglogge" bekannt, habe endlich "ein neues Wahrzeichen", sagt Stadtpräsident Alexander Tschäppät.

Der beste Platz für den Bau, so befanden die Berner, liegt über der Autobahn. Deshalb hat man ihr auf 500 Metern Länge ein Dach aufgesetzt und sie gewissermaßen nachträglich unter die Erde verbannt. Wie ein Stadttor, so schwärmen Lokalpolitiker, schwinge sich die kühne Konstruktion über die Tunneleinfahrt der Autobahn.

Endlich kann man sich verlaufen

Ein bisschen Phantasie braucht man schon für diese Interpretation. Aber neugierig machen die verschachtelten, mit Robinienholz und Aluminium verkleideten und teilweise schräg gestellten Kuben auf jeden Fall. Autofahrer können sich erst mal keinen Reim auf die gläsernen Bänder machen, die sich schräg durch die Westside-Außenhaut ziehen. Außer Dekoration haben die Glasbänder keine Funktion.

Zwanzig Meter über den Fahrspuren der Autobahn steht mitten im Menschengewusel Ruedi Amstutz und strahlt. Das Werk ist vollbracht, das Einkaufszentrum erlebt in diesen ersten Wochen einen Ansturm neugieriger Besucher. Die Eröffnung hat dem Studenten Amstutz einen Nebenerwerb als lebender Wegweiser eingebracht: "Sie glauben nicht, wie viele Leute sich heute schon hier verlaufen haben."

Die Irrläufer sind ein doppelter Triumph. Zum einen für Stadtpräsident Tschäppät. Denn bislang konnte man sich in Bern nur schwer verlaufen: Zu rechtwinklig und zu klein ist die Welt zwischen Gerechtigkeitsgasse und Bundeshaus. Die Schweiz, die sich als lockeres Bündnis vieler Täler versteht, hasst das Zentralistische und will somit auch keine nationale Metropole. Bern darf sich deshalb nicht einmal Haupt- sondern nur Bundesstadt nennen.

Erst recht können Architekt Libeskind und der Schweizer Einzelhandelsriese Migros, dem das Westside gehört, die Irrläufer zwischen den Geschäften als heimlichen Triumph verbuchen. Jedes Einkaufszentrum ist darauf bedacht, dass die Kunden nach ihren Besorgungen nicht gleich angeödet in die Parkgarage flüchten. Zugleich aber ist es mit dem angeblichen Erlebniswert oft nicht weit her. Auch im Westside dominieren etablierte Markengeschäfte und Ketten-Dependencen, die überall auf der Welt gleich aussehen und sich hier über drei Stockwerke erstrecken dürfen. Parfümerien, Elektronikläden und nach Kontinenten gegliederte Fastfood-Stationen sind an einem solchen Ort ohnehin unvermeidbar.

Immerhin, ein wenig Lokalkolorit darf schon sein: Die größte Fläche hat der Schweizer Branchenführer Globus angemietet. Das Angebot orientiert sich an den Bedürfnissen der gehobenen Schweizer Mittelklasse. Schließlich müssen die Baukosten wieder hereinkommen. Zusätzlich allerdings bietet das Westside, was den Schweizer Innenstädten fehlt: Parkraum in Hülle und Fülle.

Wäre das Westside einfach nur übersichtlich, würden die Leute schnell merken, dass es in Wirklichkeit nicht mit der Vielfalt des Warenangebots im Berner Stadtzentrum mithalten kann. Und die Eingeweihten kennen in der Innenstadt auch weit coolere Bars als die auf Effizienz getrimmte Systemgastronomie draußen im Westside. Wenn es schon an Überraschungen bei Marken, Designern und Produkten mangelt, soll die Architektur nachhelfen.

Libeskinds Formensprache spricht für sich: Diagonale Stützen, schräge Wände und vieleckige Dachfenster über den Atrien geben den Besuchern das Gefühl, in einer durcheinander geschüttelten Kathedrale gelandet zu sein. Mancher Kunde wird vielleicht ganz nebenbei doch animiert, in einem der Standard-Shops seine Kreditkarte zu benutzen. Wie schon beim Jüdischen Museum in Berlin ist auch in Bern das Gehäuse der Star. Libeskind-Bauten erzielen immer die größte Wirkung kurz vor der Einweihung, wenn noch keine Inhalte die Außenwirkung der Form stören.

Spaß auf der Spaghetti-Rutsche

Auch in Bern ist eine für Libeskind typische Großskulptur entstanden, was so manchen Architekturfreund anlocken dürfte. Für den dauerhaften Erfolg ist das allerdings zu wenig. Dafür soll etwa das Spaßbad zuständig sein. Dessen Besucher sind im Schnitt ein, zwei Generationen jünger als die in den Ladenstraßen. Sie haben die spaghettiförmig umeinander gewickelten Rutschen, die Dampfgrotte und den Wildwasser-Canyon bereits in Besitz genommen. Es werden wohl oft genug Kinder und Halbwüchsige sein, die ihre Eltern zum Shopping im Westside verdammen.

Ganz neu ist die Idee ja nicht, Einkaufen, Ausgehen, Sport und Freizeit zu verbinden, wie es Barbara Holzer, die Schweizer Projektleiterin von Libeskind, formuliert. Aber zwischen den standardisierten Umsatzschleudern amerikanischer oder englischer Einkaufszentren und dem ungewöhnlichen Erlebnisbad im Westside mit seinen 2000 Quadratmetern Wasserfläche liegen Welten.

Ungewöhnlich ist auch, dass die treibende Kraft hinter dem Bau gar nicht der Finanzier und Betreiber Migros war, sondern die Stadt Bern. Sie will ein Hochhaus-Ghetto, das aus ein paar hundert Metern Entfernung grüßt, mit der Zeit in ein urbanes Stadtviertel verwandeln - Libeskind leistet also in gewisser Weise Aufbauhilfe.

Noch hat Bern bei den Schweizern geradezu Ostfriesen-Status: "Wir werden immer ein bisschen belächelt", räumt Regula Buchmüller vom Stadtentwicklungsreferat ein. Die Berner, so das gängige Bonmot, seien so langsam, dass dort selbst die Rolltreppen gemächlicher laufen müssten. Somit steht nicht zu erwarten, dass aus einem braven 130.000-Einwohner-Ort eine rasante Weltstadt wird, Libeskind hin oder her.

Aber nach dem Zentrum Paul Klee hat Bern jetzt ein zweites Stück zeitgenössischer Spitzenarchitektur. Es muss nicht mehr nur vom Mittelalter und von den Bundesbediensteten zehren. "So etwas hat Zürich nicht zu bieten", sagt ein Mittvierziger. Und gibt dem Kerl ein Bier aus, der eigens aus Zürich kam, das Westside zu sehen.

© SZ vom 28. 10. 2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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