Krankenkassen:Jagd auf Chroniker-Patienten

Die Neuordnung der Gesetzlichen Krankenversicherung verändert das Finanzierungssystem. Das Überraschende: Die gesunden Großverdiener sind plötzlich nicht mehr so interessant.

Guido Bohsem

Der Rahmen wird erlesen sein. Der Berliner Admiralspalast im Zentrum der Hauptstadt scheint gerade angemessen zu sein, wenn die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in der kommenden Woche ihren 125. Geburtstag feiert. Kanzlerin Angela Merkel wird sprechen, ebenfalls Gewerkschaftschef Michael Sommer und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt.

Krankenkassen: Die Neuordnung der Gesetzlichen Krankenversicherung verändert das Finanzierungssystem. Plötzlich werden die gesunden Großverdiener uninteressant.

Die Neuordnung der Gesetzlichen Krankenversicherung verändert das Finanzierungssystem. Plötzlich werden die gesunden Großverdiener uninteressant.

(Foto: Foto: dpa)

Es werden Lobesreden sein, auf die sozialen Errungenschaften, auf die Erfolge, auf die Reformen. 125 Jahre sind eine lange Zeit, da kommt einiges zusammen. Gemessen an der Lebenszeit anderer Institutionen in Deutschland haben die Kassen ein hohes Alter erreicht. Vieles hat sich verändert, seit der Reichstag 1883 auf Initiative des Reichskanzlers Otto von Bismarck das "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter" verabschiedete.

Schärferer Wettbewerb

Doch steht die GKV in ihrem 126. Jahr vor einer Herausforderung, die als eine der größten ihrer Geschichte gelten kann. Mit der Einführung des sogenannten Gesundheitsfonds 2009 betreten die halbstaatlichen Institutionen neues Terrain. Seit die Versicherten 1996 erstmals ihre Kasse frei wählen durften, hat es einen so weitreichenden Systembruch nicht mehr gegeben. Sicher geglaubte Regeln gelten vom kommenden Jahr an nicht mehr. Das wird das Geschäft von Grund auf ändern.

Einige Kassenvorstände kämpfen noch gegen die Einführung des Fonds, aber es werden immer weniger. Die meisten fügen sich in das Unvermeidliche und versuchen, ihr Unternehmen so gut wie möglich zu positionieren. Nach Einschätzung des Mannheimer Gesundheitsökonomen Eberhard Wille wird die neue Zeit vor allem von härterer Konkurrenz geprägt sein.

Im Auftrag der Unternehmensberatung Accenture hat Wille mit seinem Bayreuther Kollegen Volker Ulrich 56 Kassen nach ihrer Strategie für das neue Zeitalter befragt. "Die Kassen gehen davon aus, dass sich nach der Einführung des Gesundheitsfonds der Wettbewerb verschärfen wird", sagt der Professor. Die Sorge über die neuen Bedingungen ist groß. Nach der Umfrage dominiert sie so sehr, dass langfristige, marktorientierte und strategische Ansätze im Vergleich zu anderen Branchen derzeit völlig unterrepräsentiert sind.

Gleicher Beitragssatz

Vor allem zwei Dinge bestimmen das Spiel neu. Erstens: Jede Kasse wird künftig den gleichen, von der Regierung festgelegten Beitragssatz erheben. Im Gesundheitsfonds werden die Beiträge gesammelt und dann an die Kassen verteilt. Die Konkurrenz über die niedrigen Sätze wird also ausgesetzt.

Der neue Wettbewerb entsteht, wenn eine Kasse mit dem Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommt und gezwungen ist, einen zusätzlichen Beitrag zu erheben. Im Gegensatz zum bisherigen System würden auch Geringverdiener in solchen Fällen die Kasse wechseln. "Für die Versicherten ist der Anreiz größer als bislang, weil sie die höheren Kosten alleine tragen müssen, das heißt ohne Beteiligung des Arbeitgebers. Sie spüren die Ausgabenunterschiede zwischen den Kassen deshalb doppelt stark", so Wille.

Dies hat nach den Ergebnissen der Umfrage auch Folgen für die bislang finanzkräftigen Kassen. Nach der Umfrage wollen zwei Drittel der Kassen ihre Überschüsse nicht vollständig an die Versicherten ausschütten. Sie sorgen sich, dass sie ansonsten diese Geringverdiener anziehen.

Formel außer Kraft gesetzt

Diese verfügen statistisch gesehen nicht nur über weniger Geld, sie haben im Schnitt auch eine schlechtere Gesundheit. Folglich entstehen der Kasse höhere Kosten. Die reichen Kassen setzen deshalb nach Willes Worten auf einen Mix von Beitragsauszahlungen und zusätzlichen Leistungen.

Zweitens wird der Gesundheitszustand der Versicherten den internen Finanzausgleich zwischen den Kassen noch stärker prägen. Die alte Formel, wonach viele gesunde Gutverdiener eine gute Finanzlage bedeuten, wird dadurch außer Kraft gesetzt. Sie sorgt nach Willes Worten dafür, dass der reiche und gesunde Patient nicht mehr im Mittelpunkt der Begehrlichkeit der Kassen steht. Er macht vielmehr den Versicherten besonders wertvoll, der an einer chronischen Krankheit leidet. Für Zuckerkranke oder Hochdruckpatienten, die an speziell für die Krankheit ausgerichteten Programmen teilnehmen, erhält die Kasse deutlich mehr Geld als vorher.

Was die Kassenmanager besonders freut: Das Geld kommt nicht vom Beitragszahler, sondern vom reichen Konkurrenten. Kein Wunder also, dass die meisten Kassen diesen "gut gemanagten Patienten" als wertvollsten Kunden erachten. Auf Gutverdiener setzen nur noch etwa ein Drittel der befragten Versicherer. Es sieht ganz so aus, als ob der Preiswettbewerb über die Beiträge und die Jagd auf gesunde Gutverdiener durch einen Preiswettbewerb über die Zusatzzahlungen und die Jagd auf Chroniker ersetzt wird.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie sich das neue Modell auf die Krankenkassen auswirken wird - und warum eine umfassende Versorgungsmaschinerie gegen die Anbieter mit einer schlanken Notfallabsicherung antreten werden.

Jagd auf Chroniker-Patienten

Wie wird diese neue Situation das Geschäftsmodell der Kassen prägen? Wilfried Jacobs ist sich sicher, darauf eine Antwort gefunden zu haben. Der Chef der AOK-Rheinland/Hamburg sitzt in einem Lokal im Berliner Regierungsviertel und beschreibt mit vielen Worten und wachsender Begeisterung seinen Entwurf für die Krankenkasse des neuen Zeitalters. "Fragt man Versicherte, ob sie lieber mehr zahlen oder weniger Leistungen bekommen, entscheidet er sich immer für die zweite Variante", sagt der Chef der sechstgrößten Kasse in Deutschland.

Eine Kasse könne auch mit einem Zusatzbeitrag bestehen. Sie müsse ihre Versicherten davon überzeugen, dass sie zwar teurer ist, aber auch besser. "Der Kunde muss den Preis, den er zahlen soll, wertorientiert sehen."

Doch das ist ziemlich schwierig, bei einem Leistungskatalog, der weitgehend festgeschrieben und damit eigentlich für jede Kasse identisch ist. Den Gang zum Arzt, die notwendigen Medikamente, den Krankenhausaufenthalt, all das bezahlen die anderen Kassen auch. Jacobs setzt deshalb auf eine Art Rundum-Wohlfühl-All-Inclusive-Versorgung seiner Versicherten. "Alleinstellungsmerkmale" nennt er das.

Revoluzzer der Branche

Seit gut zwei Jahren beschäftigt seine AOK 16 Ärzte, die den Versicherten über eine Telefon-Hotline medizinische Ratschläge geben und Therapievorschläge machen. Sie sind rund um die Uhr erreichbar, auch am Wochenende. Seine AOK kümmert sich darum, dass die Versicherten einen schnellen Termin bei einem Facharzt bekommen. Er hat eine Service-Hotline für Pflegefälle und ihre Angehörigen eingerichtet, und er bietet als einzige gesetzliche Krankenkasse Zusatzversicherungen etwa für Auslandsreisen oder Zahnersatz an. "Der Kunde muss den Wert des Beitrages erleben, den die Kasse erhebt", sagt er und streicht das Tischtuch vor sich glatt.

Man kann das natürlich auch völlig anders sehen als Jacobs, dessen AOK eine Vertreterin des Establishments der Kassen ist. Man kann davon ausgehen, dass es dem jungen, gesunden und zahlungskräftigen Mitglied eigentlich völlig egal ist, was die Kasse sonst noch anbietet. Man kann auf dem Standpunkt stehen, dass diese Leute nur dann von ihrer Krankenkasse hören wollen, wenn sie sie brauchen. Kurzum, man kann es sehen wie Frank Neumann.

Neumann ist Vorstandschef der BIG, einer der Direktkassen, die den Wettbewerb seit 1996 angeheizt haben, weil sie mit ihrer schlanken Organisation niedrige Beiträge bieten konnten und damit heftig um die wechselwilligen Versicherten buhlten.

Eine neue Kassenwelt

Neumann sitzt in seinem spärlich eingerichteten Büro in Berlin Mitte. Der Che-Guevara-Kalender an der ansonsten blanken Wand unterstreicht das Revoluzzer-Image, das er gerne vermittelt. Auch er glaubt, dass der Wettbewerb sich wandelt, dass er sich zu einem Kampf um Produkte und Preise wandeln wird. "Welches Gesicht gibt der Vorstand seinem Unternehmen? Ich glaube, das wird ein entscheidender Wettbewerbsparameter ab 2009", sagt Neumann.

Letztlich gehe es um die Frage, ob man Kasse oder Versicherung sein wolle. "Die Krankenkasse entscheidet und regelt, was der Versicherte braucht", erklärt Neumann. "Die BIG sehe ich eher als Krankenversicherung." Bei der BIG werde der Kunde entscheiden, welchen Arzt er aufsuche, in welches Krankenhaus er gehe. "Wir sorgen dann dafür, dass seine Aufwendungen erstattet werden. Wir stellen unseren Mitgliedern Informationen zur Verfügung darüber, welche Spezialisten und welche Krankenhäuser es gibt, aber wir sagen nicht: du sollst in ein bestimmtes Krankenhaus."

Vieles spricht dafür, dass das die neue Kassenwelt sein wird. Der Versicherer mit einer umfassend regelnden Versorgungsmaschinerie tritt gegen den mit einer schlanken Notfallabsicherung an. Es wird um das Modell AOK gegen das Modell BIG gehen, um Jacobs gegen Neumann. Das klingt nach alten Mustern und doch, darin sind sich Jacobs und Neumann einig, wird es ein völlig neues Spiel.

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