Eckrentner:Noch zeitgemäß - oder praxisfernes Konstrukt

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Statistiker haben zu Vergleichszwecken eine fiktive Figur erfunden, als die Rentenkassen 1957 vom Kapitaldeckungs- auf das Umlageverfahren umgestellt wurden

Max Geißler

Sein wahres Gesicht kennt keiner. Er ist ein Schattenmensch, identitätslos und ohne Hobbys oder Lieblingsgericht - dafür aber enorm fleißig. 45 Berufsjahre reißt er an einem Stück runter. Obwohl ihn nie jemand gesehen hat, weiß man dass er nie älter wird. Und das schon seit 1957. Damals wurde er das erste Mal öffentlich erwähnt, der Eckrenter. Im vergangenen Jahr kam er auf Einkünfte in Höhe von 14 148 Euro im Westen und 12 569 Euro im Osten. Als richtig wohlhabend kann er deshalb wohl nicht gelten.

Der Eckrentner wird gern zitiert, wenn es um den durchschnittlichen Rentenbezieher in Deutschland geht. Der fiktive Senior hat 45 Jahre lang Beiträge in Höhe des Durchschnitts der Versicherten in das deutsche Rentensystem gezahlt. Ein solcher Standardrentner erzielt 45 Entgeltpunkte und bekäme dafür eine Monatsrente von 1182 Euro im Westen und 1039 Euro im Osten - Beträge, von denen viele Ruheständler nur träumen können. Der Bundestag legt fest, was der Rentenpunkt wert ist. Aktuell erhält ein Rentner in den alten Bundesländern für einen ganzen erworbenen Punkt 26,27 Euro. Dieser Wert, multipliziert mit den Versicherungsjahren, ergibt die Monatsrente.

"Der Eckrentner existiert nur in der Theorie", sagt Peter Schwark vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft. Mit realen Rentenverläufen habe er wenig zu tun. "Kaum ein Ruheständler schafft heute 45 Beitragsjahre", sagt Schwark und nennt lange Ausbildungszeiten und die Frühverrentung als Gründe. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter betrage derzeit 60,2 Jahre. Immerhin kommen viele Männer dem Eckrentner nahe: Im Westen erreichen sie 40,1 Berufsjahre, im Osten 45 Jahre. Frauen hinken hinterher: In den alten Bundesländern arbeiten sie nur 26,1 Jahre, in den neuen Ländern 37,4.

"Während das Erfassen von Versicherungsjahren nachvollziehbar ist, basiert die Einkommensberechnung auf Fiktion", sagt Schwark. Kein Arbeitnehmer würde im Lauf seines Berufslebens Einkünfte erzielen, die exakt dem Durchschnitt aller Beitragszahler entsprechen. Dazu wären im Westen aktuell 29 488 Euro Jahresverdienst nötig, im Osten 25 373 Euro. Ein typischer Arbeitnehmer beginnt seinen Berufsweg mit geringen Bezügen, die im Lauf des Berufslebens sukzessive ansteigen. "Phasen mit hohem Einkommen können Jahre mit unterdurchschnittlichem Gehalt nicht kompensieren", sagt der Fachmann warnend. Das deutsche Rentensystem berechne Ansprüche nämlich nicht nach dem in der Regel hohen Verdienst der letzen Berufsjahre wie andere Versorgungssysteme, sondern berücksichtige alle Einkommensjahre - auch die schwachen. Hinzu kommt, dass das Durchschnittseinkommen der Versicherten, das als Messlatte für die Ermittlung individueller Rentenansprüche dient, auf Grund der allgemeinen Lohnentwicklung stetig steigt. Um einen individuellen Zuwachs an Rentenansprüchen zu erreichen, müsste das eigene Gehalt stärker steigen als der Durchschnittslohn. Zwei oder drei Prozent Zuwachs pro Jahr reichen da kaum aus.

Bernd Katzenstein vom Deutschen Institut für Altersvorsorge hält Vergleiche mit dem Eckrentner für unzeitgemäß: "Um die individuelle Rentenerwartung realistisch einschätzen zu können, müsste der Fokus auf den tatsächlichen Renten- Zahlbetrag ausgerichtet werden." Nur wenige Arbeitnehmer hätten es so gut wie der fiktive Eckrentner und könnten künftig 1000 Euro Monatsrente und mehr erwarten. Im Jahr 2005 betrug die Durchschnittsrente westdeutscher Männer lediglich 793 Euro, Ostdeutsche erhielten 840 Euro. Westfrauen mussten sich gar mit 423 Euro begnügen, in den neuen Bundesländern bekamen sie 655 Euro. Die Tendenz zeigt nach unten: So sank das Brutto-Rentenniveau in den vergangenen 50 Jahren von 57,3 Prozent (1957) auf 47,9 Prozent (2006). Die Folge: Gerade mal drei Prozent aller Frauen erhalten heute Ruhestandsgelder in Höhe des Eckrentners, bei den Männern sind es noch gut ein Drittel.

"Frauen werden durch das Eckrentner- Modell benachteiligt", kritisiert Christiane Göpf, Mitglied der bundesweiten Beratungsorganisation Finanz-FachFrauen. "Nötig wäre die Erfindung einer Eckrentnerin." Keine Mutter erlange jemals 45 Berufsjahre. Zudem erhielten Frauen für die gleiche Arbeit deutlich weniger Geld als Männer. "Eine fiktive Eckrentnerin müsste in viel stärkerem Maße Kindererziehungszeiten und den Minderverdienst von Frauen berücksichtigen", sagt Göpf. Ihr Vorschlag: "Anstatt mit 45 sollten Frauen bereits mit 30 Entgeltpunkten die Eckrente erreichen können." Der Vorschlag hat allerdings einen Schönheitsfehler: Niemand weiß, woher das Geld kommen soll.

© SZ vom 23./24.02.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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