Armut in Deutschland:Nur Sonne aus der Röhre ist immer drin

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Als erstes verschwinden Buchhandlungen und Blumenläden, dafür kommen Solarien und Nagelstudios: Armut verändert unsere Städte. Man merkt es zuerst an den Läden.

Im Solarium gibt es "Sonne satt" für vier Euro. Ein paar Schritte weiter kann man sich für 15 Euro ein Paar Herrenschuhe kaufen. An den Wühltischen bei "Woolworth" und "MäcGeiz" herrscht Gedränge. Auf den Bänken im Park reihen sich leere Flaschen aneinander, daneben stehen Gruppen von Männern, denen der tägliche Schnapskonsum anzusehen ist.

Ost wie West, ob Gera oder Pirmasens: Wo das Geld fehlt, halten Billig-Märkte Einzug. (Foto: Foto: dpa)

Wer durch die Turmstraße in Berlin-Moabit geht, entdeckt viele Anzeichen dafür, wie Armut und Arbeitslosigkeit ein Stadtviertel prägen können. In Ost wie West, in Gera oder Pirmasens: Wo das Geld fehlt, halten Ramschläden Einzug.

Nach der kontrovers diskutierten Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung leben acht Prozent der Deutschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen, in einer prekären Lebenslage und in sozialer Lethargie. Sprich: Sie sind für hiesige Verhältnisse arm. Man muss kein Wissenschaftler sein um zu sehen, dass immer mehr Menschen betteln, Pfandflaschen sammeln oder Mülltonnen nach Essbarem durchwühlen.

Der Soziologe Norbert Gestring von der Arbeitsgruppe Stadtforschung an der Universität Oldenburg findet, dass Armut in Deutschland nicht ganz so offensichtlich ist wie in manchen US- Städten. Dort sind Straßenzüge in der Hand marodierender Jugendbanden und ganze Häuser von Drogenhändlern besetzt.

Aber auch Gestring kennt in Deutschland die Grüppchen von Alkoholikern im Park. "Das sieht man jetzt öfter als vor 20, 30 Jahren", sagt er.

Gestring unterscheidet zwei Sorten von Vierteln mit sozialen Problemen: Hochhaussiedlungen des ehemaligen sozialen Wohnungsbaus wie Mümmelmannsberg in Hamburg und ehemalige Arbeiterviertel in den Städten, in denen heute viele Zuwanderer leben, zum Beispiel Gröpelingen in Bremen oder die Berliner Stadtteile Neukölln, Wedding und Moabit.

Hartmut Häußermann von der Humboldt-Universität in Berlin weiß, wie sich ein Kiez bei knappen Kassen verändert. Als erstes verschwinden Buchhandlungen und Blumenläden, sagt der Stadtsoziologe. "Im Supermarkt fallen die oberen Preisklassen weg."

Ein-Euro-Läden bestimmen das Straßenbild. Vermeintliche Luxus-Angebote wie Nagelstudios und Solarien sprießen wie Pilze aus dem Boden, gerade in Vierteln mit hohem Ausländeranteil. "Dafür ist dann doch noch Geld da", sagt eine Mitarbeiterin eines Sonnenstudios in Moabit.

Soziologe Häußermann spricht von "Kompensationsleistungen": Wer nichts hat, leistet sich wenigstens ein bisschen Sonne aus der Röhre.

Sein Berliner Kollege Carsten Keller vom Centre Marc Bloch hat beobachtet, dass es auch eine Milieufrage ist, welche Art von Läden öffnen - ob Handygeschäft oder vietnamesischer Minimarkt. Keller erforschte unter anderem Plattenbauviertel in Wolfen und Eisenach, wo mit den Bewohnern auch die Geschäfte verschwinden. "Das betrifft nicht nur den Kleinhandel, sondern auch die Supermärkte."

Auswege aus der urbanen Tristesse sind möglich: Leere Läden werden als billige Künstlerateliers genutzt, es gibt Aktionen gegen Schmutz und Lärm, Jugendliche verschönern ihr Viertel mit kunstvollen Graffiti. Seit 1999 hat sich das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" mit Aktionen wie dem Quartiersmanagement in den Kiezen dafür eingesetzt, dass aus Problemvierteln keine Gettos werden - oder gar Slums, von denen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Frühjahr sprach - und dafür heftige Kritik erntete.

"Es gibt Gebiete, die massive Probleme haben", sagt Bettina Reimann vom Deutschen Institut für Urbanistik (Berlin). Aber: "Wir haben in Deutschland keine Gettos."

Soziologe Gestring hat dazu eine Anekdote parat: Als er Fachkollegen aus den USA das Bremer "Problemviertel" Gröpelingen zeigte, meinten diese: "How nice!" - "Wie schön!".

© dpa - Caroline Bock - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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