Spezialist für virale Themen:Warum diesen Artikel jeder liest

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Likes auf Facebook, Retweets bei Twitter: Manchmal sind Faultiere im Netz viraler als Katzen, sagt Gawker-Blogger Neetzan Zimmerman. (Foto: dpa)

Er ist der vielleicht erfolgreichste Blogger der Welt. Im US-Blog-Netzwerk "Gawker" sorgt Neetzan Zimmerman oft für mehr Traffic als alle seine Kollegen zusammen - Faultier-Fotos inklusive. Doch wie erkennt der Redakteur solche viralen Inhalte, die von Lesern vielfach geteilt werden?

Von Farhad Manjoo, Wall Street Journal Deutschland

Neetzan Zimmerman will nicht Maschine genannt werden. Das Wort impliziere etwas Kaltes und Unmenschliches - und Zimmerman glaubt, dass das, was ihn so gut in seinem Job macht, das genaue Gegenteil ist: Anders als ein Computer verstehe er die Emotionen, die Menschen dazu bewegen, auf einen Online-Inhalt zu klicken.

Zimmerman ist ein 32-jähriger Redakteur der Nachrichten- und Unterhaltungsseite Gawker. Seine Aufgabe: "Virale" Inhalte zu veröffentlichen - also Videos, Fotos und verrückte Lokalnachrichten, bei denen sich die Leser nicht zurückhalten können und sie mit allen teilen, die sie kennen.

Mit Überschriften wie " Frau muss 140 Dollar Strafe am Tag zahlen bis sie ihr Kind beschneidet" oder " Schwarzer Dutzende Male wegen 'Hausfriedensbruch' bei der Arbeit festgenommen" schafft er es, dass seine Artikel mehr als 30 Millionen Seitenaufrufe im Monat generieren. Damit könnte Zimmerman aktuell der beliebteste Blogger der Welt sein.

Zimmerman sorgt so verlässlich für Internet-Traffic, dass man ihn als Automaten abqualifizieren könnte, der einfach nur jede sensationsheischende Nachricht veröffentlicht, die ihm unterkommt - oder als reiner "Aggregator", der selbst nichts zum Journalismus beiträgt. Doch diese Perspektive unterschlägt Zimmermans Talent. Er veröffentlicht lediglich rund ein Dutzend Artikel am Tag. Ich arbeite bereits seit Jahren online und habe immer noch Schwierigkeiten damit, vorherzusagen, welcher Artikel ein Hit wird und welcher nur meiner Mutter gefallen wird. Zimmerman scheint diese Nuss geknackt zu haben.

Nicht nur der Journalismus kann von Zimmerman lernen

Sein Geheimnis, sagt er, sei seine starke Verbindung zu den sich stets entwickelnden und allzu menschlichen archaischen Urinstinkten seines Publikums. In der Regel könne Zimmerman in wenigen Sekunden entscheiden, ob etwas viral wird. "Man kann das, glaube ich, Intuition nennen", sagt er.

Zimmermans Technik und seine Rolle bei Gawker Media wird teils als verzweifelter Ausverkauf des Journalismus verdammt und teils als Überlebenskonzept von bedrängten Verlagshäusern für die Onlinewelt gepriesen - und manchmal auch beides gleichzeitig. Auch Marketingleute, die ihre Produkte verbreiten wollen, können davon etwas lernen.

Am interessantesten an Zimmerman aber ist die Art, wie er Geist und Maschine verschmolzen hat. Wir leben in einer Zeit, in der Arbeitnehmer in ständiger Konkurrenz zur Technik stehen, in der Computer nach und nach jeden unserer Jobs bedrohen. Zimmermans Erfolg wirkt wie eine Verteidigungsfront gegenüber den Computern: Auch wenn es seinen Job ohne das Internet nicht gäbe, fand er in einer von Maschinen dominierten Welt eine Lücke für menschliche Intuition. Nicht nur der Journalismus kann davon lernen. Wenn Sie in einer Branche arbeiten, die von Computern bedroht wird, hängt ihr Überleben davon ab, ob sie von anderen Menschen lernen.

Erstmals erfuhr ich von Zimmermans Popularität vor einigen Monaten, als ich eine erstaunliche Grafik bei Gawker entdeckte. In einem guten Monat fährt der zweitbeliebteste Autor der Seite rund fünf Millionen Pageviews ein - kein schlechtes Ergebnis. Zimmerman generiert in der Regel ein Vielfaches dessen - häufig mehr als alle anderen Redakteur bei Gawker zusammengerechnet.

Zimmermans Klick-Dominanz ist Teil von Gawkers Strategie. Indem er im Alleingang derart viele Klicks einfährt, subventioniert er sozusagen den Rest des Teams quer - und schafft so Freiräume für tiefere, längere und experimentierfreudigere Artikel. Das ist kein neues Journalismus-Modell. Das Geschäftsmodell der Zeitungen ist seit Jahrzehnten die Bündelung von billigen umsatzbringenden Inhalte mit teuren, anspruchsvollen Inhalten. Für das Web ist dieses Modell aber dank Online-Publikationen wie BuzzFeed, Huffington Post und einem Dutzend kleinerer Websites der Maßstab geworden.

Gawker stellte Zimmerman 2012 an - doch im Geschäft mit viralen Nachrichten ist er schon seit 2008, als er The Daily What startete - eine Website, auf der er zum Teilen geeignete Storys aus dem Web sammelte. Virale Inhalte sind Zimmermans Leidenschaft, und er behandelt die Geschichten so wie ein "echter" Journalist mit Nachrichten umgeht. Wenn er über die verrückten Videos und Fotos spricht, die wir alle online verbreiten, kann er sich kaum noch bremsen. "Mit diesen Dingen zu tun zu haben, bedeutet für mich, mit dem Fundament des Menschseins zu tun zu haben", sagt Zimmerman. "Das sind die Dinge, die Leute wirklich interessieren, nicht die Dinge, bei denen sie auf Cocktailpartys so tun, als würden sie sich dafür interessieren."

Wie Zimmerman arbeitet

Jeden Morgen überfliegt Zimmerman ab etwa 7.30 Uhr einen Nachrichtenfeed mit mehr als 1.000 Websites mit vorwiegend viralen Inhalten, den er zusammengestellt hat. Er scrollt die Nachrichten schnell durch und schaut sich jede davon nur wenige Sekunden an. Er achtet auf Thema und die Hauptmerkmale für virale Inhalte: Ist es süß, empörend, herzerwärmend, lustig, oder macht es wütend? Er überfliegt auch die Erfolgskriterien des Artikels - die Anzahl der Facebook-Likes und Verlinkungen auf Twitter. Das sind häufig die besten Anzeichen für die Viralität eines Inhalts.

Weil er ständig den Traffic darauf untersucht, welche Artikel gut laufen und welche nicht, hat er stets eine Liste der "heißen" Themen im Kopf. "Es könnte zum Beispiel sein, dass Geschichten über Katzen gerade nicht so angesagt sind, weil Faultiere beliebter sind", sagt er. "Daher habe ich die Regel: Katzen sind raus, Faultiere sind drin, konzentrier dich auf Faultiere, denn die verdienen dir deine Brötchen."

Der gesamte Prozess geht sehr schnell vonstatten. "Innerhalb von 15 Sekunden weiß ich, ob ein Artikel läuft", sagt Zimmerman. Ein paar Sekunden später kennt er in der Regel schon die Überschrift. "Es ist ein biologischer Algorithmus", sagt er. "Ich versetze mich selbst in das System - ich werde in gewisser Weise zum System. Wenn ich etwas sehe, weiß ich sofort, wie gut es funktionieren wird." Tatsächlich sagt Zimmerman, dass er nicht länger zwischen solchen Artikeln unterscheiden kann, die er interessant findet und solchen, die beliebt werden. "Wenn es sich nicht lohnt, sie zu veröffentlichen, bin ich nicht interessiert", sagt er.

Kann eine Maschine virale Inhalte finden?

Ich habe mich zwei Stunden mit Zimmerman unterhalten und versucht, seine Schwachstellen zu finden. Könnte eine intelligente Maschine ihn schlagen? Sagen wir ein System, das von einem sozialen Netzwerk wie Facebook gebaut und mit vielen Daten über Geschichten gefüttert wird, die Leute mögen.

Er glaubt das nicht. Maschinen haben Zugriff auf große Mengen Daten - doch laut Zimmerman sind sie nicht so gut darin, kleine kollektive Veränderungen in menschlichen Präferenzen vorauszuahnen wie er. "Ich verfolge die großen Storys online wie eine Seifenoper", sagt er. "Zum Beispiel innerhalb des Katzen-Trends haben verschiedene Katzen ihren Moment, in dem sie beliebt sind: Grumpy Cat ist derzeit nicht beliebt, Lil Bub schon eher." Zimmerman verfolgt solche Trends nicht mit einer Excel-Tabelle oder irgendeiner Art von formalisiertem System. Er fühlt gewissermaßen jeden Tag, ob sich der virale Wind dreht.

Zimmermans größte Sorge sind nicht Maschinen, sondern andere Menschen - insbesondere Marketingleute. In den vergangenen Jahren wurden virale Nachrichten von Werbern, Witzbolden, politischen Beratern und anderen vereinnahmt, die damit etwas verkaufen wollten. Wenn er kann, versucht Zimmerman herauszufinden, ob eine Geschichte zweifelhaft wirkt oder eine versteckte Agenda dahinter steckt. Doch die Wahrheit zu sagen, schadet dem Traffic: "Wenn die Internetkultur ihre Kinder frisst, werde ich meinen Job noch machen können?", fragt er sich. "Wenn die Wahrheit zu sagen sich in der Internetkultur nicht in mehr Traffic übersetzt, könnte ich meinen Vorsprung verlieren und müsste mir eine andere Arbeit suchen."

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