Phoenix-Bibliothek:Das ganze Netz

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Der einstmals betuliche Sender Phoenix hat sich im zehnten Jahr seines Bestehens zum öffentlich-rechtlichen Versuchslabor fürs Web 2.0 entwickelt. Auch die Kanzlerin gratuliert.

Ingo Salmen

Letzte Woche war wieder so eine richtige Phoenix-Woche. G8 in Heiligendamm, Kirchentag in Köln. Da konnten die Bonner ihre ganze Live-Routine ausspielen: Demo-Bilder, Pressekonferenzen, Expertengespräche, Protestkonzert. Allein vom Gipfel der Staatschefs flimmerten 60 Stunden über die TV-Bildschirme.

Ganz beschwingt vom Treffen mit Bush und Co. machte nun sogar die Kanzlerin persönlich dem öffentlich-rechtlichen Ereignis- und Dokumentationskanal die Aufwartung. Der Anlass war bedeutsam: Im Atrium der Bundespressekonferenz in Berlin beging Phoenix sein zehnjähriges Bestehen.

"Eine Erfolgsstory", jubelte WDR-Intendantin Monika Piel. "Ein Leitmedium für Multiplikatoren", befand ihr ZDF-Kollege Markus Schächter. "Bleiben Sie Ihrem Weg treu", empfahl Angela Merkel.

Programm-Höhepunkte aus zehn Jahren Phoenix

Das größte Geschenk bereitete sich das Geburtstagskind am Montag freilich selbst. Weitgehend unbemerkt von der Festgesellschaft schaltete der Sender in seinem Internetauftritt ein Ereignisarchiv frei. "Phoenix Bibliothek" nennt sich das Portal.

Es enthält Programm-Höhepunkte aus zehn Jahren Phoenix: die Ruck-Rede von Roman Herzog, die Walser-Bubis-Debatte, die Spendenaffäre der CDU, Clintons Aussage zum Fall Lewinsky, Fischers Auftritt vorm Visa-Untersuchungsausschuss, Fanmeile und 11. September, Ratzingers Papstwahl, Zabels Dopinggeständnis.

Bundestagsdebatten sind noch verhältnismäßig rar: Schröders erste Regierungserklärung ist etwa im Angebot oder die Entscheidung über die Libanon-Mission der Bundeswehr. Über 100 Videos mit einer Spieldauer von rund 61 Stunden.

"Wie alles bei uns ist auch die Bibliothek puristisch", sagt Programmgeschäftsführer Christoph Minhoff. Das liege zum einen am vergleichsweise überschaubaren Budget des Senders, der seine gesamte Arbeit mit gut 34 Millionen im Jahr bestreiten muss, zum anderen aber auch an der journalistischen Überzeugung.

In der Tat ist das Portal angenehm simpel angelegt: Der Zugang erfolgt entweder über eine thematische oder eine zeitliche Sortierung. Auch Rubriken gibt es nur wenige: Deutschland, Europa, Ausland. Eine freie Suchfunktion fehlt allerdings bislang.

Der Kanal, der das Fernsehen entschleunigt hat, setzt sich mit der Bibliothek einmal mehr an die Spitze der öffentlich-rechtlichen Online-Entwicklung. In der Eigenwerbung sorgt er für "das ganze Bild", nebenbei kümmert er sich ums ganze Netz. Schon seit anderthalb Jahren sind Gesprächsformate wie "Unter den Linden" oder "Im Dialog" als Videostreams auf www.phoenix.de archiviert, auch als Podcast stehen sie längst zur Verfügung.

Zudem hat der Sender im letzten Herbst sein Programmschema geändert: Seitdem gibt's die abendlichen Talks live nur als Streaming-Angebot im Internet und erst später als Aufzeichnung im TV. "Darüber werden wir noch mal nachdenken", räumt Minhoff freilich ein - bei der Livesendung im Fernsehen sei die Beteiligung der Zuschauer mit Fragen besser gewesen. Eine Reform der Reform wäre frühestens im Herbst möglich.

Trotz aller Einfachheit stellt die Bibliothek wiederum einen Schritt nach vorn dar. Zwar zeigt auch das ZDF schon große Teile seines Programms im Netz. Doch während die Mainzer Mutter den Download der Videos noch plant, haben die Macher von Phoenix Online, die auf der Gehaltsliste von ZDF Digital Productions stehen und auch auf dem Lerchenberg ihren Arbeitsplatz haben, in das Phoenix-Portal dieses Angebot schon eingebaut: Ein Großteil der Videos lässt sich als MPEG4-Datei oder als Podcast für den Privatgebrauch herunterladen.

Lediglich eine Reihe von Auslandsthemen ist davon ausgeschlossen - der Rechte wegen. Und während das ZDF noch an einem Schulportal bastelt, sieht Minhoff, der Mainzer Entsandte bei Phoenix, in der Bibliothek bereits ein besonders für Schulen und Universitäten geeignetes Archiv: "Der Otto-Normalverbraucher guckt sich nicht zwangsläufig noch mal den Visa-Untersuchungsausschuss an."

Zum Sendestart vor zehn Jahren kam Phoenix etwas betulich daher, besonders ins Auge fielen die "Historischen Debatten" des Bundestags, die Helmut Illert am Sonntagnachmittag in Schwarz/Weiß servierte. Mittlerweile verfügt das TV-Programm über den jüngsten Zuschauerschnitt aller Öffentlich-Rechtlichen, abgesehen vom Kinderkanal. Und im Netz hat sich Phoenix schon fast zu einem Versuchslabor gemausert.

Minhoff spricht lieber von "Trendsetter", man werde keineswegs vom Mutterhaus vorgeschickt: "Wir sind nicht der Versuchsballon des ZDF." In Sachen Internet kämen dem Sender die kurzen Entscheidungswege zugute, eine Idee könne auch mal in drei Tagen umgesetzt werden. "Wir waren immer schon relativ mutig und haben vieles ausprobiert, was andere dann später in größerem Rahmen genutzt haben."

Minhoff kann sich noch einiges mehr vorstellen: Wenn die Bibliothek läuft, will er auf der Phoenix-Homepage an anderer Stelle auch user generated content unterbringen. Die Ideen seien schon da, die Umsetzung könnte bis zum kommenden Frühjahr erfolgen: "Die gängigen Sachen wie Foren und Blogs verlangen alle Manpower. Deshalb überlegen wir andere Formen."

Details will er nicht nennen, ob es Videos sind, Bilder oder Text. "Da ist die ganze Palette vorstellbar, es muss halt zu Phoenix passen." Und das schließe natürlich ein, auf die Glaubwürdigkeit zu achten.

Vorbild öffentlich-rechtlicher Online-Aktivitäten ist gemeinhin die BBC mit ihrer radikalen Digitalisierungsstrategie. Nach englischem Vorbild will das ZDF etwa zum Herbst 50 Prozent des Programms der jeweils letzten Woche online zur Verfügung stellen, ein so genannter "Seven Day Catch Up".

"Da arbeiten wir auch dran", sagt Minhoff, wenngleich dafür dann ein anderes Portal infrage käme. In der Bibliothek sollen die Programmschätze dauerhaft erhalten bleiben, ohne Verfallsdatum. Zuletzt hat die britische Tante zudem eigene Kanäle bei Youtube eingerichtet.

Für Phoenix kann sich Minhoff das allerdings nicht vorstellen. Sein Sender sei mit dem Clip-Portal "weniger kompatibel", sagt der Geschäftsführer. "Wir machen ja immer die lange Form." Die Videos in der Bibliothek sind denn auch typisch Phoenix: Nicht wenige dauern mehr als eine Stunde.

Dass bislang lediglich Ereignisse in der Bibliothek zu finden sind, nicht aber Dokumentionen, liegt an der vertrackten Rechtesituation. Selbst wenn Xavier Naidoo vorm Brandenburger Tor für die WM-Kicker singe, sei es "grenzwertig", dies im Netz dauerhaft zur Ansicht und zum Download anzubieten, sagt Minhoff. Im endgültigen Zusammenschnitt ist es daher auch nicht mehr zu finden.

Aktuelle Ereignisse sollen nun nach und nach hinzukommen, eigene Reportagen ebenso, historische Debatten vielleicht, eingekaufte Dokumentationen sicher nicht. Auch der musikalische Protest der Grönemeyers, Geldofs und Bonos werde kaum in die Bibliothek aufgenommen. Von 60 Stunden G8, schätzt Minhoff, dürften online "zwei, drei Stunden" für die Nachwelt überleben. Vom ganzen Bild ein Bruchteil.

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