Online-Foren:Sokrates light

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Sind Diskussionsforen im Internet ein Tummelplatz für Stänkerer und Leute, die in der Realität nichts zu sagen haben? Eine Psychologin hat sie untersucht - mit erstaunlichen Ergebnissen.

Mirjam Hauck

Er war die Geburtstunde der Philosophie, der Dialog. Geführt vom Griechen Sokrates mit seinen Schülern, Athener Bürgern und weiteren Geistesgrößen führte er zu neuen Ideen, zu grundlegenden Erkenntnissen über das Wesen der Welt und ein gelingendes Leben. Wie erreiche ich Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit oder Tugend?

Sokrates: Erfinder der Dialogkultur (Foto: Foto: dpa)

Gut zweieinhalbtausend Jahre später bekommt man den Eindruck, dass sich die Dialogkultur vollständig ins Internet verlagert. In Online-Foren diskutieren Sokrates Nachfolger. Philosophische Höhenflüge sind dabei selten. Im Internet treffen Meinungen zu allen erdenklichen Themen aufeinander. Von A wie Alternativmedizin bis Z wie Zelturlaub. Fast jeder hat zu jedem Thema eine Meinung und tut diese - meist anonym - kund.

Die Beurteilung der Online-Foren und ihres Inhalts, neudeutsch "User Generated Content" genannt, schwankt zwischen Speerspitze der Demokratisierung der Medien und Tummelplatz für Selbstdarsteller und Stänkerer.

Wer steckt dahinter?

Doch wie funktioniert das geschlossene System der Online-Foren? Wer verbirgt sich hinter Nicknames wie Goldmedal92 oder HansDampfyx? Und wie beeinflussen ihre Einträge das Verhalten der anderen Forenteilnehmer?

Die Psychologin Anja Wiesner von der Universität Linz hat sich dieses unbekannten Gebiets angenommen. Ihr Forschungsobjekt war ein deutschsprachiges Literaturforum. Insgesamt sieben Monate untersuchte sie das Treiben von 50 Usern - unter der Annahme, dass diese das Forum nutzen, um Erfahrungen, Meinungen und Wissen mit anderen auszutauschen und ihre Beiträge die anderen Teilnehmer in ihren Entscheidungen beeinflussen.

Meinugsführer vs. Meinungssucher

Die Psychologin hat die Nutzer in Meinungsführer und Meinungssucher eingeteilt. Meinungsführer waren diejenigen, die sich dezidiert zu einem Buch geäußert haben, es kritisiert oder gelobt haben. Meinungssucher sind die, die beispielsweise Fragen gestellt haben wie: "Kann sich jemand vorstellen, das dieses Buch an einem anderen Ort spielen kann?" Anja Wiesner wollte herauszufinden, wer mehr schreibt, auf welche Art Postings die User stärker reagieren und ob die Personen, die sich anhand eines Fragebogens als Meinungsführer bezeichnen, tatsächlich die meiste Ahnung haben.

Ging die Psychologin mit der Annahme in die Studie, dass Meinungsführer mehr Diskussionen und Reaktionen hervorrufen, wurde sie eines besseren belehrt. Diese Gruppe ist zwar deutlich aktiver, sie schreibt zehn mal mehr Beiträge, aber diese haben, erklärt Anja Wiesner "einen schließenden Charakter". Nur die Beiträge der Sucher regen die anderen zu Antworten an.

Das Klischee, dass Meinungsmacher vor allem ältere Männer mit Doktorhut seien, bestätigte sich laut Psychologin aber nicht. "Ich habe keine demographischen Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsstand ausgemacht, die das Verhalten beeinflussen, auch psychographische Faktoren wie Extrovertiertheit spielen im Online-Forum keine Rolle."

Niedrige Hemmschwelle

Ein weiterer Untersuchungsgegenstand war das Selbstbild der Forenteilnehmer - es stimmte nicht immer mit der Realität überein. Nicht jeder, der sich als ausgewiesener Literaturexperte sieht, hat, so stellte die Untersuchung fest, tatsächlich ein fundiertes Wissen über Goethe, Böll und Jelinek. Die Anonymität des Internets ist laut Anja Wiesner ein Grund, warum es so einfach ist, sich in Foren mit dezidierten Ansichten zu äußern. "Im Internet gehe ich kein Risiko ein, mein Selbstwertgefühl zu belasten. In der Realität blamiere ich mich, wenn ich zugebe, dass ich zu einem Thema keine Meinung habe."

Die Schlussfolgerung daraus, dass wer in der realen Welt nichts zu sagen hat, es mit einem Online-Forum versuchen sollte, will die Psychologin aber nicht unbedingt ziehen. "Aber die Hemmschwelle im Internet ist natürlich viel geringer."

Diskutieren Sie mit. Was halten Sie von Online-Foren? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

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