Generation Internet:"Die Identität wird klebrig"

Der Medienrechtler Urs Gasser erklärt in SZ Wissen, wie das Netz Jugendliche verändert, warum sie seltener in neue Rollen schlüpfen können und gern alles über sich verraten.

Hubert Filser

SZ Wissen: Haben Sie Kinder?

Generation Internet: "Jugendliche gehen viel freizügiger mit persönlichen Daten um. Heute gibt es eine andere Erwartung zwischen Jugendlichen, was privat ist und was öffentlich. Die Grenze verwischt."

"Jugendliche gehen viel freizügiger mit persönlichen Daten um. Heute gibt es eine andere Erwartung zwischen Jugendlichen, was privat ist und was öffentlich. Die Grenze verwischt."

(Foto: Foto: dpa)

Urs Gasser: Ja, die sind erst fünf und sieben Jahre alt. Aber sie waren eigentlich die Motivation, das Buch über die "Digital Natives" zu schreiben, also über Jugendliche, die mit der vernetzten digitalen Welt aufgewachsen sind.

SZ Wissen: Sind 16-Jährige anders als Sie oder ich?

Gasser: Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Identität: Bei der sozialen Identität, also bei dem, was andere über einen denken, spielt die Online-Identität heute eine große Rolle.

Zu meiner Zeit war die soziale Identität vor allem dadurch geprägt, mit wem ich in der Schule gut auskam, wie ich mich gekleidet habe, ob ich ein cooles Bike fuhr oder nicht. Das ist heute anders, heute passiert vieles online, vor allem auf den Social Networking Sites wie Facebook, MySpace oder StudiVZ.

SZ Wissen: Im Kern geht es doch immer noch ums Coolsein. Heute filmt man sich einfach mit seinem Bike und lädt den Film hoch.

Gasser: Das Konzept der sozialen Identität verändert sich nicht wesentlich, man definiert sich immer noch über ähnliche Dinge wie die Kleidung oder das Rad. Aber die Formen sind völlig anders.

Ich bin öfter umgezogen. Jeder Ortswechsel ermöglichte eine Identitätsänderung, theoretisch hatte ich die Chance, völlig neu zu beginnen. Die Kids im Internet haben heute diese Möglichkeit nicht mehr.

SZ Wissen: Haben Sie da immer ein neues Image ausprobiert?

Gasser: Ja, ich war nicht gefangen in alten Sozialstrukturen. Haben Sie heute als Digital Native ein Onlineprofil, verfolgt sie das rund um die Erde, so bildet sich eine überaus stabile soziale Identität.

Die Identität ist klebriger geworden und gleichzeitig stärker für andere nachvollziehbar. Das ganze Leben ist dokumentiert, Tag für Tag kommen mehr Daten dazu. Man kann zudem nach jeder Person gezielt im Netz suchen.

SZ Wissen: Gibt es noch andere Veränderungen?

Gasser: Jugendliche gehen viel freizügiger mit persönlichen Daten um. Heute gibt es eine andere Erwartung zwischen Jugendlichen, was privat ist und was öffentlich. Die Grenze verwischt.

Im Internet lernen Jugendliche teilen

SZ Wissen: Warum erzählen viele Jugendliche so bereitwillig private Dinge?

Gasser: Das Internet wird extrem durch soziale Normen dominiert, die auf Teilen, Mitteilen und Austauschen ausgerichtet sind. Das sieht man daran, wie beliebt Tauschbörsen sind.

Keine Trennung zwischen Online- und Offlinewelt

SZ Wissen: Teilen ist ja eigentlich eine positive Eigenschaft.

Generation Internet: Urs Gasser ist Direktor des auf Internet- und Gesellschaftsforschung spezialisierten Berkman Centers an der Universität Harvard und Berater verschiedener Regierungen.

Urs Gasser ist Direktor des auf Internet- und Gesellschaftsforschung spezialisierten Berkman Centers an der Universität Harvard und Berater verschiedener Regierungen.

(Foto: Foto: Universität St. Gallen)

Gasser: Genau, das ist ja das Paradoxe. Ich sage immer zu meinen Kindern: Du musst mit deinem Bruder, deiner Schwester teilen. Das ist eine positive, soziale Norm.

Das Internet bietet zudem aufgrund seiner Architektur die Möglichkeit, etwas weiterzuleiten, auszutauschen, mit anderen zu teilen. Die technische Hürde dafür ist so tief angelegt, dass Teilhabenlassen wichtiger wird als in der realen Welt.

SZ Wissen: Sollten Jugendliche auch negative Erfahrungen machen, damit sie sehen, was mit persönlichen Daten passieren kann?

Gasser: Das ist eine gute Frage. Ich denke, man muss natürlich die Jugendlichen schützen, wenn es ins Extreme kippt. Jugendliche dürfen keinen Schaden nehmen, das müssen die Betreiber von Plattformen beachten, die Eltern und Erzieher, auch die Gesetzgeber.

Aber innerhalb eines gewissen Spielraums finde ich es im Prozess des Erwachsenwerdens gut zu erfahren, dass es auch Menschen gibt, die Privates gegen einen nutzen.

SZ Wissen: Deckt sich das mit Ihren Ergebnissen?

Gasser: Wir stellen fest, dass Jugendliche, die das Internet sehr intensiv nutzen, auch eine höhere Sorgfalt im Umgang mit persönlichen Informationen aufweisen.

Das ist interessant, man würde ja vermuten, dass Jugendliche umso sorgloser werden, je mehr Zeit sie im Internet verbringen. Der intensive Nutzung setzt also auch einen Lernprozess in Gang, der zu einem angemessenen Umgang mit dem Medium Internet führt.

SZ Wissen: Sie haben Extreme angesprochen, bei denen Erwachsene eingreifen müssen. Das Problem ist, dass genau diese oft wenig Ahnung haben, was im Internet passiert.

Gasser: Ja, wir wollen mit dem Buch auch eine Brücke zwischen Jugendlichen und Erwachsenen schlagen. Es ist vielleicht trivial, das zu sagen: Aber wir brauchen Gespräche am Frühstückstisch oder beim Abendbrot darüber, was in der Onlinewelt der Kids passiert.

Jugendliche trennen nicht mehr zwischen Online- und Offlinewelt. Man sollte sich bestimmte Dinge erklären lassen: Zeig mir doch mal Facebook, wie geht das? Oder wie funktioniert Second Life, wie baut man sich einen Avatar, ein Alter Ego? Wie sucht man bei Wikipedia.

Man sollte ganz pragmatisch versuchen, diese für Erwachsene vielleicht fremde Welt ins vorhandene Sozialgefüge einzubinden. Das ist ein erster, wichtiger Schritt.

Im Internet leidet die Qualität

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(Foto: SZ Wissen)

SZ Wissen: Für Erwachsene kann das zum Wettlauf mit den Neuerungen werden. Liefern wir uns dem Medium immer mehr aus?

Gasser: Natürlich ist die Geschwindigkeit des Mediums rasant, ständig tauchen neue, verwirrende Anwendungen auf, die bei Jugendlichen gerade in sind.

Das Internet hat keinen Anfang und kein Ende, das stimmt, doch die Grundthemen sind relativ konstant: Das Verhältnis von Jugendlichen zu Informationen verändert sich und auch ihre Art zu kommunizieren.

SZ Wissen: Ein wichtiges Thema ist die Qualität im Netz. Digital Natives verlassen sich ganz auf das Internet, schreiben Sie. Ist das nicht eine gefährliche Entwicklung?

Gasser: Das ist richtig, Qualität ist mein größter Sorgenpunkt neben der Sicherheit der Kinder. Wir haben in allen Untersuchungen festgestellt, dass Kinder das Qualitätsproblem überhaupt nicht sehen.

Ich vergleiche es gern mit dem Rauchen: Wenn Jugendliche rauchen, sind sie dabei sorglos, sagen oft, das ist ja kein Problem, macht ja jeder. Trotzdem kann rauchen natürlich schädlich sein, auch wenn man das Bewusstsein dafür nicht hat.

SZ Wissen: Tatsächlich geraten durch das Internet klassische Qualitätsmedien wie die Zeitung unter Druck. Sind sie weg, verschwindet mit ihnen auch die Qualitätsgarantie.

Gasser: Ja, das stimmt, die entscheidende Frage ist: Wie schnell entwickeln sich neue Qualitätsmechanismen?

SZ Wissen: Müssten wir nicht sofort Internet- und Medienkompetenz an Schulen lehren?

Frontalunterricht passt nicht zum Internet

Gasser: Das wäre wichtig. Viele Lehrer fühlen sich überfordert, aber das ist ein Übergangsproblem. Wir müssen uns überlegen, wie der Medienunterricht aussehen könnte.

Das Internet ist dezentral organisiert, die klassischen Methoden in der Schule, der Frontalunterricht kommen den Themen des Internets nicht sehr entgegen. Jugendliche erwerben Wissen heute anders, das funktioniert nicht mehr über eine Autorität.

SZ Wissen: Jugendliche laden ohne schlechtes Gewissen die neuesten Kinofilme über Seiten wie The Pirate Bay herunter.

Gasser: Das ist ein komplexes Thema. Das Internet lebt vom Austausch der Daten. Das führt zu einem Spannungsfeld mit dem Urheberrecht, das auf Exklusivität ausgelegt ist. Man kann versuchen, die Jugendlichen so zu erziehen, dass sie wieder mehr Respekt vor dem geistigen Eigentum haben.

Doch man kann auch fragen, ob die Urheberrechtsgesetze noch zeitgemäß sind. Die Mehrheitsmeinung fordert eher schärfere Gesetze. Ich bin skeptisch, ob das eine erfolgreiche Strategie ist.

SZ Wissen: Und was fordern Sie?

Gasser: Erstens, dass man nicht nur Probleme, sondern auch die Chancen sieht, die das Internet bringt. Zweitens müssen wir mit den Herausforderungen differenziert umgehen. Es gibt keine einfachen Antworten. Sie können zum Beispiel soziale Netzwerke für Jugendliche verbieten, wo es möglich ist, an Schulen etwa.

Sie lösen so ein paar Probleme, richten aber auch Schaden an, weil sie die kreativen Möglichkeiten ebenfalls verhindern. Insgesamt gilt: Wenn wir die Weichen richtig stellen, hilft uns das Internet, eine bessere Zukunft zu bauen.

Urs Gasser schrieb mit dem Harvard-Professor John Palfrey das äußerst informative Buch: Generation Internet. Die Digital Natives, Hanser, 19,90 Euro

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