Dokumentation der Papier-Rede:Das Internet vergisst nicht

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Zum 25. Jahrestages des Volkszählungsurteils: Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, warnt vor einer Überwachungsgesellschaft internationalen Ausmaßes. Eine Dokumentation des Redetextes.

Festvortrag zur Veranstaltung aus Anlass des 25. Jahrestages der Verkündung des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts am 15. Dezember 2008 in Karlsruhe von Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. (Foto: Foto: Reuters)

"In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen."

Meine sehr verehrten Damen und Herren, beim Hören dieser Ihnen sicherlich vertrauten Worte - zitiert nach dem Lukas-Evangelium - haben Sie sich vielleicht gewundert. Aber ich kann Sie beruhigen, ich habe mich nicht im Datum geirrt, es ist heute noch nicht Weihnachten. Nein, wir sind vielmehr zusammen gekommen, um den 25. Jahrestag der Verkündung des "Volkszählungsurteils" des Bundesverfassungsgerichts am 15. Dezember 1983 zu würdigen, das - um ein Wort meines ehemaligen Kollegen Wolfgang Hoffmann-Riem aufzugreifen - in der Folge zur "Magna Charta" des deutschen Datenschutzrechts geworden ist. Denn in diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz erstmals ein "Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" abgeleitet.

I. Zum Hintergrund des "Volkszählungsurteils"

Wie kam es jedoch dazu, dass ausgerechnet die für das Jahr 1983 geplante Volkszählung zu einer solchen Entscheidung führte?

Die eingangs zitierte Passage aus dem Weihnachtsevangelium nach Lukas führt deutlich vor Augen, dass Volkszählungen schon vor 2000 Jahren ein übliches Mittel waren, mit dem Regierungen Informationen über ihre Bevölkerung gewannen. Insbesondere im Römischen Reich galt der sogenannte "Zensus", die Volks- und Vermögensschätzung, als ein notwendiges Instrument der Steuererhebung.

In den Vereinigten Staaten sind Volkszählungen im Zehnjahresrhythmus sogar von der Verfassung vorgeschrieben. Auch in der Bundesrepublik Deutschland gab es bereits vor dem Jahr 1983 Volkszählungen und für das Jahr 2011 ist ein EU-weiter Zensus geplant, der in Deutschland - anders als im Jahr 1983 - hauptsächlich registergestützt durchgeführt werden soll.

Diese Erhebungen dienen heute aber nicht mehr in erster Linie steuerlichen Zwecken, sondern sie verschaffen dem Staat die statistische Grundlage für gesellschaftspolitische, soziale, wirtschaftliche und ökologische Planungen und Entscheidungen.

Dies war auch bei der für das Jahr 1983 geplanten Volkszählung so. Gleichwohl hat damals das die Datenerhebung anordnende Gesetz auch in solchen Teilen der Bevölkerung Beunruhigung ausgelöst, die - ich zitiere das "Volkszählungsurteil" - als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektierten, die für rationales und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen.

Zu dieser Beunruhigung mag beigetragen haben, dass einige Sachkundige - wie etwa Sie verehrter Kollege Spyros Simitis als Hessischer Landesdatenschutzbeauftragter - trotz einstimmiger Verabschiedung des Volkszählungsgesetzes in den gesetzgebenden Körperschaften von Anfang an die Auffasssung vertraten, die dort geregelten Möglichkeiten der Erhebung und Verwertung von Daten genügten nicht hinreichend unserer Verfassung. Dies hat ja dann zum Teil mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 auch eine Bestätigung erfahren.

Jedoch beruhte die Beunruhigung in der Bevölkerung darüber hinaus auch wesentlich darauf, dass sich im Laufe der 70er Jahre die Möglichkeiten der Datenverarbeitung erheblich weiterentwickelt hatten. Zur Datenverarbeitung wurden damals immer mehr Großrechner eingesetzt. Diese konnten aus Größen- und Kostengründen nur vom Staat und kapitalkräftigen Unternehmen betrieben werden.

Die Datenverarbeitung fand deshalb in zentralen, in der Regel gut abgeschirmten Rechenzentren statt und wurde nur von einer kleinen Schicht hochspezialisierter Fachleute beherrscht. Gerade dadurch sah wohl mancher das von George Orwell für das Jahr 1984 prognostizierte Menetekel zur Wirklichkeit werden, nämlich eine totale Beherrschung der Gesellschaft durch eine allwissende, selbst die Gedankenwelt kontrollierende Partei.

Mittlerweile haben sich die technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung freilich so sehr revolutioniert, dass der "Große Bruder" George Orwell's aus heutiger Sicht über die damals, gewissermaßen in der informationstechnischen Steinzeit bestehenden Möglichkeiten der Überwachung nur noch mitleidig lächeln könnte.

Die technischen Möglichkeiten von heute befinden sich allerdings nicht mehr in den Händen weniger Einzelner oder gar nur von Staaten. Die Privatisierung der Informationstechnologie hat im Zusammenwirken mit der Globalisierung die Zahl potentieller "Big Brother" so unübersichtlich werden lassen, dass aus datenschutzrechtlicher Sicht anarchische Zustände eher zu drohen scheinen als ein totalitärer Überwachungsstaat.

Doch lassen Sie mich, bevor ich auf die heute durch den Staat und durch Private drohenden Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie weitere den Datenschutz betreffende Entwicklungen eingehen werde, zunächst die Grundaussagen des "Volkszählungsurteils" in Erinnerung rufen.

II. Grundaussagen

1. Herleitung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung

Das Bundesverfassungsgericht verankerte das mit dem "Volkszählungsurteil" anerkannte "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" im Mittelpunkt unserer grundgesetzlichen Ordnung, nämlich im Wert und der Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt. Ihrem Schutz dient - neben speziellen Freiheitsverbürgungen wie dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung oder dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis - das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das unter anderem auch das Recht am eigenen Bild oder vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen der eigenen Person schützt.

Die Ableitung eines Maßstabs für die staatliche Informationserhebung und -verarbeitung unter Bezugnahme auf die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht war freilich nicht neu. So hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1970 in seiner Entscheidung zum sogenannten "Mikrozensus" - das ist die Erstellung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens - festgestellt, dass es mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren wäre, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich sei.

Neu war im "Volkszählungsurteil" vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht die Vorgaben des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an die modernen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung angepasst hat.

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt hier den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet daher dem Einzelnen die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.

Damit wurde die zuvor vom Bundesverfassungsgericht verwendete "Sphärenkonzeption" zum Teil aufgeben. Seit dem "Volkszählungsurteil" hängt die Beurteilung der Frage, inwieweit ein Datum als sensibel zu beurteilen ist, nicht mehr allein davon ab, ob es einen intimen Vorgang betrifft. Unter den Bedingungen der modernen Informationstechnologie gibt es nämlich kein vornherein "belangloses Datum" mehr. Vielmehr bedarf es nun zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhangs.

Die modernen Mittel der Datenverarbeitung geben zudem die Möglichkeit, einmal erlangte Informationen beliebig zusammenzufügen, ohne dass der Einzelne die Richtigkeit und Verwendung kontrollieren könnte. Wer jedoch nicht mehr überschauen kann, wer in einer Gesellschaft was wann und bei welcher Gelegenheit über einen weiß, wird in seiner Persönlichkeit und in der Ausübung von Freiheitsrechten, die auch für die Mitwirkung in einem demokratischen Gemeinwesen von Bedeutung sind, gefährdet.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat nach dem "Volkszählungsurteil" allerdings nicht zur Folge, dass der Einzelne ein eigentumsgleiches Recht an "seinen Daten" hat. Denn der Mensch ist Teil einer miteinander kommunizierenden Gemeinschaft. Eine Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Dies hat zugleich zur Folge, dass der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen muss.

2. Datenschutzrechtlichte Folgerungen

Welche konkreten Folgerungen zog das "Volkszählungsurteil" aus der genannten Einordnung des Datenschutzes als Grundrechtsschutz? Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedürfen nach dem "Volkszählungsurteil" zunächst einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Dabei muss der Gesetzgeber den Verwendungszweck der zu erhebenden Daten bereichsspezifisch und präzise festlegen. Eine Weitergabe von Daten kommt grundsätzlich nur zu dem gleichen Zweck in Betracht, zu dem die Daten erhoben wurden. Die öffentliche Verwaltung ist keine "Informationseinheit", innerhalb derer im Wege der Amtshilfe jede Information beschafft werden darf. Erforderlich sind zudem verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen, wie Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten sowie im Interesse eines vorgezogenen Rechtsschutzes die Beteiligung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten.

III. Weitere Entwicklung des Datenschutzes

Die Vorgaben des "Volkszählungsurteils" führten dann im Jahr 1990 zu einer Novellierung des aus dem Jahr 1977 stammenden Bundesdatenschutzgesetzes. Damit war die Entwicklung des Datenschutzes freilich nicht abgeschlossen. Für die Folgezeit lassen sich vielmehr vier wichtige Entwicklungslinien identifizieren, die - wie ich meine - auch für die zukünftige Entwicklung maßgeblich sein werden.

1. Europäische Integration

Eine Entwicklungslinie wurzelt in der Europäischen Integration. Die Einführung des Binnenmarktes brachte die Notwendigkeit mit sich, die Regeln der EGMitgliedstaaten über den Schutz der Privatsphäre bei der Datenverarbeitung zu vereinheitlichen. Denn die Datenverarbeitung machte fortan nicht mehr an den Ländergrenzen Halt, wohingegen die unterschiedlichen Datenschutzregeln - sofern denn überhaupt welche existierten - die Freiheit des Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital beeinträchtigten.

Die deshalb im Jahr 1995 erlassene allgemeine Datenschutz-Richtlinie30 kombinierte unterschiedliche juristische Ansätze und Rechtskulturen und beschränkte sich nicht - wie man annehmen könnte - auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern zielte auf ein hohes Schutzniveau ab.

Darüber hinaus erfordert nicht nur die gemeinsame Verwaltung des Binnenmarktes, sondern auch die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union durch das Schengener-Durchführungsübereinkommen und die in der Folge verstärkte Zusammenarbeit in Bereichen Justiz und Inneres einen Informationsaustausch zwischen den vielen mitgliedstaatlichen Verwaltungen und der Kommission. Dabei ist aus datenschutzrechtlicher Sicht positiv hervorzuheben, dass für die deshalb errichteten Systeme für den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten - wie etwa das Schengener Informationssystem - spezielle Regeln über den Rechtsschutz des Betroffenen und die Amtshaftung existieren.

Die europäischen Organe und Einrichtungen selbst sind durch eine Verordnung an datenschutzrechtliche Regeln gebunden. Darüber hinaus würde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union - sollte sie mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft treten - dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten - unabhängig von ersten Ansätzen hierzu in Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - deutlich sichtbar den Status des Grundrechtsschutzes verleihen.

2. Konzept der informierten Öffentlichkeit

Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich zu einer weiteren Entwicklungslinie kommen, die allerdings dem staatlichen Datenschutz zu widersprechen scheint: Sie beruht auf dem "Konzept der informierten Öffentlichkeit". In Verfolgung dieses Konzepts wurde in den letzten Jahren mit der deutschen Arkantradition gebrochen, nach der Behördenakten - außer für die Beteiligten - grundsätzlich der Geheimhaltung unterlagen Nun gibt es auf Bundes- oder Landesebene Gesetze, die jedermann den Zugang zu Umweltinformationen, zu gesundheitsbezogenen Verbraucherinformationen oder allgemein zu jeder amtlichen Information gewährleisten.

Diese Entwicklung hin zu einem "gläsernen Amt" wurde unter anderem durch Vorschriftendder Europäischen Union sowie durch Vorbilder in anderen Staaten wie den USA oder Schweden angestoßen. In letzterem ist das Öffentlichkeitsprinzip bereits im Jahr 1766 eingeführt worden.

Das "Konzept der informierten Öffentlichkeit" hat nicht nur zur Folge, dass Sie - lieber Herr Schaar - als Bundesbeauftragter für den Datenschutz jetzt auch für die Informationsfreiheit zuständig sind.

Nein, es zielt vielmehr darauf ab, die "res publica" Wirklichkeit werden zu lassen, dass heisst, durch mehr Transparenz der Verwaltung und einen verbesserten Informationszugang der Bürger den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu stärken. Damit korrespondiert das Informationszugangsrecht für Jedermann - jedenfalls auf einer abstrakten Ebene - mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Wie bereits erwähnt, hat ja gerade auch das "Volkszählungsurteil" den Zusammenhang zwischen Datenschutz und Ausübung demokratischer Freiheitsrechte deutlich aufgezeigt. Dennoch ist auch unübersehbar, dass es im konkreten Fall durchaus zu einem Konflikt zwischen Informationsfreiheit und Datenschutz kommen kann, und zwar nicht nur dann, wenn wie im Sonderfall des Stasi-Unterlagen-Gesetzes personenbezogene Daten durch rechtsstaatswidrige Ausspähung erlangt wurden.

Ich denke jedoch, dass diese Konflikte durch eine sorgfältige und differenzierende Abwägung der jeweiligen Rechtspositionen gelöst werden können.

3. Innere Sicherheit

Freilich wurde der Staat in den Jahren nach dem "Volkszählungsurteil" nicht nur gläserner, er bekam auch selbst immer mehr Möglichkeiten zur Durchleuchtung Einzelner. So wurden in den 90er Jahren insbesondere zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität neue Ermittlungsmethoden eingeführt, wie der "kleine" und der "große Lauschangriff", und es wurden die Befugnisse des BND zur Überwachung der Telekommunikation ausgeweitet.

Und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA und vom 11. März 2004 in Madrid wurden in Deutschland sowie auf EU-Ebene Maßnahmen durchgeführt oder beschlossen, wie die präventive polizeiliche Rasterfahndung nach sogenannten "Schläfern", die "Online-Durchsuchung" oder die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten.

Damit steht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Vergleich zur Zeit des "Volkszählungsurteils" vor neuen Herausforderungen. Sie haben ihren Grund allerdings nicht nur in der Art der drohenden Gefahren, sondern auch in den revolutionären Veränderungen der Informations- und Kommunikationstechnologie. Es ist dabei anzuerkennen, dass der Staat - schon um seiner grundrechtlichen Pflicht zum Schutz von Leib, Leben oder Freiheit zu genügen - diese technischen Veränderungen bei der Gefahrenbekämpfung und Verfolgung von Straftaten nicht unberücksichtigt lassen kann. Gleichwohl dürfen bei der Ausbalancierung von Freiheit und Sicherheit die Gewichte nicht grundlegend verschoben werden.

Für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt zunächst der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anforderungen an den Rang der zu schützenden Rechtsgüter sowie die Art und Intensität von deren Gefährdung. So sind beispielsweise präventive polizeiliche Rasterfahndungen ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr für hochrangige Rechtsgüter oder automatische KFZKennzeichenüberwachungen ohne konkreten Anlass und ohne jede Konkretisierung der Verwendungszwecke mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren.

Darüber hinaus darf - dies hat das Bundesverfassungsgericht seit seiner Anfangszeit immer wieder betont - der Kernbereich privater Lebensgestaltung, der sich letztlich aus der Menschenwürde ableitet, durch staatliche Überwachungsmaßnahmen nicht angestastet werden. Die Menschenwürde und der Menschenwürdegehalt spezieller Freiheitsrechte sind nämlich nicht gegenüber anderen Freiheitsrechten und den aus ihnen folgenden Schutzpflichten des Staates abwägbar oder gar "wegwägbar".

Gleichwohl stellt sich in der Praxis oft das Problem, dass vor einer Datenerhebung nicht geklärt werden kann, ob sie den Kernbereich betreffen wird. Für diese Situationen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur "Online-Durchsuchung" ein zweistufiges Schutzkonzept durch die Unterscheidung von Erhebungs- und Auswertungsphase entwickelt, auf das ich jetzt aber nicht näher eingehen möchte.

Vielmehr möchte ich noch erwähnen, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Maßgabe des "Volkszählungsurteils" im Alter von fast 25 Jahren mit der genannten Entscheidung zur "Online-Durchsuchung" gewissermaßen eine "Schwester" bekommen hat, nämlich das "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme".

Die Geburt dieser neuen "Tochter" des allgemeinen Persönlichkeitsrechts war notwendig, weil weder die speziellen Freiheitsrechte noch die übrigen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegen die Gefahren hinreichend Schutz gewähren, die sich aus der für die Persönlichkeitsentfaltung bedeutsamen Nutzung der Informationstechnik ergeben.

Das neue Grundrecht sichert den persönlichen Bereich nämlich auch dann, wenn auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten.

Zudem schützt es die Vertraulichkeit und Integrität dieser Systeme insbesondere dann, wenn der Einzelne wegen ihrer technischen Komplexität gar nicht mehr in Lage ist, über ihre Vertraulichkeit und Integrität selbst bestimmen zu können. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung liefe hier von seinem Ansatz her ins Leere.

Angesichts dieser alten und neuen grundrechtlichen Grenzen für die sicherheitsrechtliche Tätigkeit des Staates scheint mir seine Verwandlung in einen Überwachungsstaat "Orwell'scher Prägung" eine eher fernliegende Möglichkeit zu sein. Denn jenseits aller verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeiten der bisher vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Maßnahmen versuchen - nach meiner Beobachtung - die derzeit maßgeblichen politischen Akteure zumindest, sich an diese Vorgaben zu halten.

Zudem verfügt unser Gemeinwesen über rechtsstaatliche und demokratische Kontrollmechanismen, die es von totalitären Überwachungsstaaten unterscheidet, wie wir sie auch aus unserer jüngeren Geschichte kennen.

4. Gefahren für den Datenschutz durch Private

Zum 25. Jahrestag des "Volkszählungsurteils" sorge ich mich jedenfalls mehr davor, dass wir uns zu einer privaten Überwachungsgesellschaft internationalen Ausmaßes verwandeln, und dies weitgehend auch noch völlig freiwillig.

Durch den andauernden technischen Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologie und die internationale Vernetzung der Informationswege haben wir alle - zumindest diejenigen von uns, die sich diesen laufenden technischen Veränderungen stellen wollen oder können - im Vergleich zur Zeit vor 25 Jahren unglaublich viele neue Handlungsmöglichkeiten hinzugewonnen.

Wir können über das Internet Briefe schreiben, die in Sekundenschnelle ankommen, Bücher und Bahntickets kaufen sowie unsere Bankgeschäfte erledigen. Wir freuen uns darüber, wenn wir beim Einkauf Bonuspunkte bekommen, für die wir später ein "Geschenk" erhalten oder geben im Internet ohne größeres Nachdenken auf verschiedensten Seiten unsere intimsten Gedanken, Gefühle oder Bilder einem uns unbekannten Publikum preis. In Zukunft könnte - wofür es sicherlich gute Gründe gibt - auch noch unsere Krankenakte digital gespeichert und versendet werden.

Würden alle diese irgendwo auf der Welt über uns gespeicherten Informationen zusammengeführt, ließe sich sehr leicht ein "Persönlichkeitsprofil" von jedem von uns erstellen. Dadurch würde der im "Volkszählungsurteil" für unzulässig befundene "Super-Gau des Datenschutzes" Wirklichkeit werden, allerdings herbeigeführt durch die Hände Privater.

Auch eine weitere, bereits eingangs zitierte Aussage des "Volkszählungsurteils" scheint auf privatem Sektor neue Aktualität zu bekommen. Die Aussage lautete: "Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über einen weiß". Diesbezüglich drängt sich der Gedanke an die in letzter Zeit fast schon wöchentlich aufgetretenen Skandale betreffend den "Datendiebstahl" oder die Überwachung von Arbeitnehmern geradezu auf.

Wenn man noch berücksichtigt, dass das Internet - wie es heißt - "nichts vergisst", erscheint eine zweckwidrige Verwendung von heute im Internet kommunizierten Daten in der Zukunft geradezu programmiert.

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Sinne des "Volkszählungsurteils" und seine junge "Schwester", das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, fordern auch diesbezüglich den Schutz der Bürger.

Denn die genannten Grundrechte verpflichten den Staat, im Ausgleich mit konkurrierenden Freiheitsrechten ein angemessenes Schutzregime zu schaffen und durchzusetzen sowie sich auf internationaler Ebene für ein solches Regime einzusetzen.

Dabei wird sich der Staat häufig nicht mit bloßen Selbstverpflichtungen Privater begnügen dürfen, sondern wird selbst eine verbindliche Ordnung konstituieren müssen, um der grundrechtlichen Werteordnung auch im Privatrechtsverkehr Geltung zu verschaffen.

Die nun von der Bundesregierung geplante Einführung des Einwilligungsprinzips für den Datenhandel sowie eines - allerdings freiwilligen - Datenschutzauditverfahrens mit Gütesiegel scheinen daher nahezu geboten zu sein, um dem objektiven Gehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung endlich auch im privaten Bereich hinreichend Rechnung zu tragen.

Allerdings befürchte ich auch, dass der grundrechtliche Schutzauftrag des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angesichts des ständigen Fortschritts der Technik wohl nie wird abgeschlossen werden können.

5. Schluss

Meine Damen und meine Herren, Sie sehen, der Ausgangspunkt des "Volkszählungsurteils" hat in den letzten 25 Jahren erhebliche Veränderungen und Entwicklungen erfahren. Gleichwohl haben die Aussagen des "Volkszählungsurteils" nichts von ihrer Aktualität verloren.

Ich bin daher der festen Überzeugung, dass es auch in 25 Jahren - dann allerdings auch zusammen mit dem Urteil zum Schutz informationstechnischer Systeme, das dann gerade seinen 25. Geburtstag gefeiert hat - nicht nur noch pflichtschuldig zitiert, sondern auch immer wieder mit Erkenntnisgewinn gelesen werden wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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