Cloud-Computing:Schreibmaschinen mit Datenleitung

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Arbeiten in der Wolke: PCs werden zunehmend zu reinen Eingabegeräten degradiert - das Rechnen erledigt das Internet.

Helmut Martin-Jung

Es war eine gigantische Aufgabe. Innerhalb von nur 24 Stunden sollten elf Millionen Artikel aus dem historischen Archiv der New York Times in ein Dateiformat umgewandelt werden, das auf nahezu allen Computern der Welt lesbar ist. Mit den Rechnern, die dem Zeitungsverlag zur Verfügung standen, wäre das in dieser Zeit niemals zu schaffen gewesen.

Cloud-Computing: Anspruchsvolle Rechenaufgaben lassen sich ausslagern - nicht ohne Risiko. (Foto: Foto: dpa)

Aber es fand sich ein Ausweg, auch wenn der nicht ohne Risiko war. "Ehrlich gesagt habe ich manchmal schon ein bisschen Panik bekommen", erzählte Derek Gottfrid von der Times-Technikmannschaft hinterher auf seinem Blog, "schließlich habe ich sehr neue und noch nicht völlig erprobte Techniken verwendet, und das bei einem sehr wichtigen Projekt mit festem Termin."

Doch Gottfrids Coup klappte. Er hatte nicht Rechner eingekauft, sondern Rechenleistung und so ein Verfahren angewendet, das im Jahr darauf zu dem Modewort der Branche werden sollte: "Cloud computing", auf Deutsch etwa Rechnen in der Wolke.

Eine Wolke, dieses Bild benutzen Computerexperten, wenn sie Verbindungen aus dem eigenen Netzwerk, zum Beispiel das einer Firma, in die unendlichen Weiten des Internets meinen. Seine wertvollen Daten den diffusen Verästelungen des Cyberspace anzuvertrauen, das hatte aber nicht einmal der Techniker Gottfrid gewagt. Seine "Wolke", das waren einhundert Computer in einem Rechenzentrum des Online-Versandhändlers Amazon, die er zeitweise angemietet hatte.

Das Geschäft mit der Rechenwolke

Um für Zeiten gerüstet zu sein, in denen viele Kunden über das Internet gleichzeitig auf die Datenbanken zugriffen, standen im Rechenzentren von Amazon massenhaft Computer herum. Gebraucht wurden die teuren Geräte aber nur in Spitzenzeiten.

Um solche Überkapazitäten zu nutzen wurde die "Elastic Compute Cloud" erfunden, ein Verbund von Rechnern, der sich flexibel anpassen lässt. In Zeiten, in denen Amazon die Rechner nicht selbst braucht, werden sie nun vermietet. Mittlerweile ist die hauseigene Rechenwolke ein ernstzunehmender Geschäftsbereich von Amazon, den man online buchen kann - eine Stunde Rechenzeit auf einem der Wolken-Rechner kostet weniger als sieben Cent.

Während auch Privatnutzer damit beginnen, solche Angebote zu nutzen, zum Beispiel um Dateien auf Rechnern im Internet zu speichern, wetteifern Firmen wie Google oder IBM mit Programmen und Dienstleistungen im Internet um die besten Plätze in einem Rennen, das - darin sind sich Experten einig - einen Paradigmenwechsel auslösen wird. Manche sagen gar schon das Ende des PC vorher, und selbst Softwarehersteller Microsoft, der mit dem klassischen PC groß geworden ist, räumt ein: "Wir befinden uns jetzt in einer neuen Ära", sagt Microsofts Software-Chef Ray Ozzie, "einer Ära, in der das Internet im Mittelpunkt steht."

Ein reines Eingabegerät

Auch Ozzies Vorgänger, Firmengründer Bill Gates, hatte in einer berühmt gewordenen Mail schon 2005 leitende Mitarbeiter ermahnt, sich dieser Entwicklung zu stellen. Ein PC steht zwar, wie Gates es einst voraussagte, auf fast jedem Bürotisch der Welt. Aber seine Zeit als zunehmend rechenkräftige Maschine, die immer umfangreichere Software-Pakete stemmt, könnte bald vorbei sein. In manchen Szenarien entwickelt sich der PC zu einem reinen Eingabegerät. Unter welchem Betriebssystem er läuft oder seine Rechenleistung spielen dagegen keine große Rolle mehr.

Software muss dann auch nicht mehr mühsam auf jedem Computer installiert werden, sie steckt in der Wolke. "Wenn Sie sich in ein paar Jahren einen neuen PC kaufen wollen, dann tun Sie das einfach, hängen ihn ans Internet, melden sich an - und Sie haben alle Programme drauf, die Sie brauchen", verspricht Ozzie.

Auf der nächsten Seite: Millionen Anwender nutzen unbewusst Cloud-Computing.

Das Endprodukt ensteht in der Wolke

Gerade bei rechenintensiven Anwendungen könnte das sinnvoll sein. Wer zum Beispiel einen Film aus seiner Videokamera schneiden und auf eine DVD brennen will, kann die Schnittmarken auf seinem Rechner setzen. Um die aufwendige Berechnung des fertigen Endprodukts kümmern sich Computer in der Wolke und spielen den fertigen Film über das Internet zurück.

In der Industrie ist ein solches Verfahren bereits üblich. Das Hollywood-Studio Dreamworks ("Shrek", "Transformers") beispielsweise schickt Festplatten mit den elektronischen Daten seiner Kinofilme zu Amazon, in dessen "Cloud" sie dann Bild für Bild auf die gewünschten Ausgabeformate umgerechnet werden.

Auf vielen Gebieten haben Cloud-Anwendungen große Marktanteile erobert. Millionen Nutzern von Diensten wie Flickr oder YouTube, wo man kostenlos Fotos und Videos einstellen kann, fällt das kaum auf. Weit verbreitet sind auch Dienste, wie zum Beispiel RapidShare, die Speicherplatz zur Verfügung stellen - gegen Gebühr oder finanziert durch Werbeeinblendungen. Am deutlichsten sichtbar aber wird der bevorstehende Wandel, wenn man sich ansieht, was der Suchmaschinenbetreiber Google in den vergangenen Jahren nach und nach aufgebaut hat.

Auch offline arbeiten ist möglich

Das Unternehmen stellt Bürosoftware kostenlos zur Verfügung, für die man nichts installieren muss - man erreicht sie einfach über den Web-Browser. Die Online-Programme decken einen großen Teil von dem ab, was häusliche Anwender brauchen, wenn sie Texte schreiben, Tabellen anlegen oder Termine verwalten. Mittlerweile können die Programme sogar damit umgehen, wenn die Rechner einmal nicht am Internet hängen. Alles, was offline dazukommt, wird mit der Online-Version abgeglichen, sobald der Computer das nächste Mal ans Netz geht.

Besonders Menschen, die viel auf Reisen sind, finden Gefallen daran, dass sie jederzeit, an jedem Ort und von jedem Computer mit Internetanschluss aus auf ihre Dokumente zugreifen können. Das konnte auch Microsoft, den Marktführer für Bürosoftware, nicht kalt lassen.

Bei Windows7, dem für spätestens 2010 geplanten Nachfolger des glücklosen Windows Vista, werden Cloud-Anbindungen eine wichtige Rolle spielen. Ganz aber will man in Redmond natürlich nicht vom PC als Zentrum des Geschehens lassen, wie der für die Langzeitstrategie zuständige Manager des Unternehmens, Craig Mundie, sagt: "Man muss nur definieren, was ein PC sein wird."

Die vielen Geräte wie Handy und Mini-Computer, die als persönliche Rechner fungieren, bräuchten doch auch Betriebssysteme und Software, "das ist viel schwieriger als Rechenzentren zu betreiben, in denen ein paar Anwendungen laufen", sagt er mit einem Seitenhieb auf Google. Mundie gibt auch zu bedenken, dass man womöglich nicht alle Daten der anonymen Rechnerwolke anvertrauen möchte.

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"Es ist schlicht Irrsinn"

Das sieht Richard Stallman sogar noch viel radikaler. Der rauschebärtige Experte ist als Mitgründer der Freie-Software-Bewegung weltbekannt. "Es ist schlicht Irrsinn", warnte er vor kurzem im britischen Guardian vor dem Trend zum Cloud computing, man verliere die Kontrolle über seine Daten. "Rechnet selber auf eurem eigenen Computer", empfiehlt Stallman.

Gefahr droht aber nicht nur von neugierigen Geheimdiensten oder kriminellen Hackern: Funktioniert der Internetzugang nicht, kommt man auch nicht an seine Daten. Im übrigen kann der Cloud-Betreiber auch pleitegehen oder verkauft werden. "Fragen Sie Ihren Anbieter, was in so einem Fall passiert und wie Sie Ihre Daten wieder zurückkriegen", empfiehlt daher die Beratungsfirma Gartner.

Als potentielles Risiko sieht man es dort auch, dass manche Anbieter nicht einmal angeben, in welchem Land die Daten ihrer Kunden gespeichert werden. Dazu kommt die Möglichkeit von Katastrophen wie etwa ein Brand im Rechenzentrum oder ein Erdbeben. Dem halten die Befürworter allerdings entgegen, dass die Cloud-Betreiber mehr Expertise hätten, Daten professionell zu sichern als viele vor allem kleine und mittlere Firmen, bei denen Datenschutz und -sicherheit oft zu kurz kämen.

Hierin sieht Microsoft eine Chance. Einem Konzern, der bereits Hunderte Millionen Anwender mit Software versorge, werde man auch abnehmen, dass er die Daten sicher und vertrauenswürdig speichern könne, hofft Chief Software Architect Ray Ozzie. Er lenkt die gesamte Strategie des weltgrößten Softwarehauses in eine Richtung, die von drei Faktoren bestimmt wird: PC, Handy und Internet.

"Ein Nutzer wird bestimmt kein 45-Seiten-Papier auf dem Laptop in einem Starbucks-Café schreiben", sagt Janice Kapner, eine der Verantwortlichen für das Bürosoftware-Paket Office. "Aber er wird es dort vielleicht noch bearbeiten wollen." In Schwellenländern wie Indien plant der Konzern, Programme wie Word und Excel nur in der Version anzubieten, die man über den Internetbrowser bedient. Finanzieren soll sich das über Werbeeinblendungen.

Wie schnell sich Cloud computing als Massenphänomen ausbreitet, wird aber vor allem von einem Faktor abhängen: Von möglichst flächendeckend verfügbaren und schnellen Internetverbindungen. Auf Daten und Dokumente, die stundenlang durch die Leitung tröpfeln, wird niemand warten. Dass die Menschen aber weg wollen von hochgezüchteten PC-Alleskönnern, die ständiger Wartung bedürfen, zeigt sich am Erfolg der sogenannten Nettops. Das sind kleine Laptops, die oft mit dem Betriebssystem Linux laufen, nur 200 bis 400 Euro kosten und keine großen Rechenkünstler sind. Eines aber können sie sehr gut: Mit dem Internet Verbindung aufnehmen.

© SZ vom 04.11.2008/heh - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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