Wie Polizisten nach Extremfällen leiden:"Wenn ich nur das Autobahnschild sehe, krieg' ich Zustände"

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Sie sind dabei, wenn Kollegen sterben, oder müssen dabei zusehen, wie ein Kind auf dem Auto-Rücksitz verbrennt. Extremfälle lassen selbst erfahrene Polizisten nicht mehr los. Wie der Zentrale Psychologische Dienst der bayerischen Polizei den Kollegen hilft und warum die alten Hasen besonders gefährdet sind.

Stefan Mayr

Was die Polizistin Gerda P. (Name geändert) in dieser Nacht durchmacht, wollen andere Menschen nicht im Traum erleben. Es ist drei Uhr morgens im nebligen Wald. Nach einer Verfolgungsjagd werden die 30-Jährige und ihr Kollege plötzlich beschossen. Aus der Dunkelheit. Der Kollege wird mehrmals getroffen. Am Kopf, am Hals, im Unterleib. Sie erleidet einen Streifschuss an der Hüfte.

Der Tod eines Kollegen oder Extrem-Erlebnisse bei einem Polizeieinsatz bleiben oftmals nicht ohne Wirkung auf die Psyche der Beamten. Hilfe bietet dann der Psychologische Dienst. (Foto: dapd)

Beide Polizisten schießen zurück. Ins Nichts - sie wissen nicht, woher die Schüsse kommen. Plötzlich herrscht Stille. Die Polizistin sieht nichts. Sie weiß nicht, ob die Täter wegrennen oder sich anschleichen. Mit Todesangst lauscht sie in die Nacht. Alles, was sie hört, ist, wie ihr Kollege stirbt.

Vor vier Wochen hat sich diese nächtliche Szene im Augsburger Siebentischwald ereignet. Gerda P. leidet bis heute unter diesem Extremerlebnis. Sie ist noch nicht in den Dienst zurückgekehrt, vielmehr wird sie von den Spezialisten des Zentralen Psychologischen Dienstes (ZPD) betreut.

Der ZPD ist eine Abteilung der bayerischen Polizei, die immer dann aktiv wird, wenn es um psychologische Extremfälle geht. "Die Gewalt gegen Polizisten und die Traumatisierung von Beamten nimmt zu", sagt Manfred Langer, der Leiter des ZPD.

Vorsicht Psychologe!" steht an der Bürotür des 63-Jährigen in einem Altbau in München-Schwabing. Der Diplom-Psychologe trägt keine Uniform, sondern ein Jeans-Sakko. Langer und seine 20 Mitarbeiter kümmern sich um die Polizisten und deren Angehörige. Die Anzahl der Betreuungsfälle steigt an, berichtet Langer, damit spiegele die bayerische Polizei die Verhältnisse in der Gesellschaft wider.

Er sagt aber auch: "Die Suizidrate unter Polizisten ist knapp über dem Durchschnitt. Das ist bei uns ein Problem, das gebe ich offen zu." Im Jahr 2011 haben sich sieben Beamte das Leben genommen. "Zu 80 Prozent aus privaten Gründen", sagt Langer. Und zu 20 Prozent aus dienstlichen Gründen?

Die Anforderungen an und die Anfeindungen gegen Polizisten nehmen zu. Zwischen 2003 und 2009 stiegen Widerstandshandlungen gegen Beamte um 20 Prozent an, dabei werden diese Taten immer brutaler. Viele Polizisten kommen damit nicht zurecht, bestätigt Langer.

Dabei räumt er gründlich mit einem weit verbreiteten Vorurteil auf: Es sind nicht die Frauen oder die Neulinge, die am meisten betroffen sind. Im Gegenteil. "Die gravierendsten Fälle" seien oft jene Beamte, die jahrelang bestens funktionierten und alle Widrigkeiten wegsteckten. "Die schlucken alles runter, und dann gibt es einen Einsatz, bei dem der Schutzpanzer kaputtgeht", so Langer.

Er berichtet von einem Kollegen, der in 25 Jahren als Autobahnpolizist schon etliche Leichen gesehen hatte. Dann musste er mitansehen, wie ein Kind auf dem Rücksitz eines Autos verbrennt. "Er sieht es zappeln und hört es schreien", so Langer. "Diese Schreie gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf." Bis - wie in vielen Fällen - die verzweifelte Ehefrau des Beamten beim ZPD anrief.

Ihr Mann litt unter einer klassischen posttraumatischen Belastungsstörung. So nennen es die Experten, wenn ein Mensch ein Extremerlebnis nicht verarbeiten kann und deshalb gesundheitliche und/oder berufliche Probleme bekommt. "Er hat zu mir gesagt: Wenn ich nur das Autobahnschild sehe, krieg' ich Zustände", schildert Langer. Er schickte den Mann zur Therapie. "Heute kann er wieder in Frieden leben", sagt Langer. Doch auf die Autobahn ist der Beamte nicht mehr gefahren. Nur noch Innendienst.

Zu den Aufgaben des ZPD gehört nicht nur die Betreuung von Beamten. Langers Leute rücken auch an, wenn Selbstmörder von der Brücke springen wollen, wenn Geiselnehmer ein Blutvergießen androhen. Sie sind geschult im Umgang mit Erpressern und Entführern. Sie sind bei allen größeren Schadensereignissen dabei, die im Polizei-Jargon GGSK heißen (Größere Gefahren- und Schadenslagen und Katastrophen). Und sie kümmern sich auch um die Familie des getöteten Augsburger Polizisten.

Langer äußert sich zu dem konkreten Fall zwar nicht. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung überbrachte ein Vorgesetzter, der die Familie kennt, die Todesnachricht. Von diesem Zeitpunkt an befand sich rund um die Uhr ein Betreuer im Haus der Angehörigen. Auch die Kollegen des Getöteten in der Polizeiinspektion Süd wurden betreut. "Wir sind hingefahren", berichtet Langer, "die einen nahmen das Gesprächsangebot gerne wahr, die anderen nicht."

Mehr will Langer dazu nicht sagen. "Sonst schimpfen die Leute draußen wieder, ihr Weicheier, das gehört doch zu eurem Job." Und außerdem würden sich sonst die Beamten den Betreuern verschließen und nichts mehr erzählen. "Das würde unsere Arbeit torpedieren", sagt Langer.

Auch die Betreuung von Gerda P. dauert noch an. Manfred Langer äußert sich zwar nicht konkret zu diesem Fall. Er erklärt aber, dass der ZPD in solchen Situationen nach einem festen Schema vorgeht. Oberstes Ziel sei es dabei, eine posttraumatische Belastungsstörung zu vermeiden. "Der extreme Einsatz ist das Gift, und wir versuchen in Vier-AugenGesprächen, die Arznei zu sein", sagt Langer.

Zunächst begeben sich die Betreuer mit den Betroffenen an den Tatort. Dort wird das Geschehen in Gesprächen aufgearbeitet. Einige Tage später wird nach den Gefühlen gefragt: Was hast du gefühlt, gehört, gerochen, gesehen? Wie ist dein Leben derzeit? Hast du Ängste? Nach vier bis sechs Wochen wird der Zustand der Betroffenen nochmals geprüft. "Wenn es nach wie vor Appetitlosigkeit, Unruhe oder Schlafstörungen gibt, dann schicken wir die Leute in eine Therapie", berichtet Langer.

© SZ vom 24.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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