Oberammergau:"Fluch und Segen"

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Die Oberammergauer Passionsspiele verbrauchen so viel Energie, dass die Einwohner danach jahrelang in Lethargie versinken. Doch das soll sich jetzt ändern.

Heiner Effern

Eigentlich hätte Arno Nunn lieber weiterhin Wirtschaftskriminelle gejagt. Doch als die Sache mit dem Dach für das Passionsspielhaus mehr und mehr außer Kontrolle geriet, da hat es ihm gereicht.

"Wer vor 4500 Zuschauern spielt, entwickelt eine besondere Persönlichkeit": Die Passionsspiele im Jahr 2000 (Foto: Foto: AP)

Eine Sonderkonstruktion musste es sein, auf der dünne Metallfäden über der schützenden Membran gespannt sind, damit die Regentropfen vor ihrem Aufprall zersprengt werden. Damit es nicht zu laut wird. Um den Ausblick aus dem Passionspielhaus auf den freien Himmel nicht zu beeinträchtigen, kann das Dach auf zwei Schienen bei Bedarf vor- und zurückgefahren werden.

Trotzdem konnte Nunn niemand sagen, wofür genau man das weit mehr als eine Million Euro teure Dach braucht. Für die Passion jedenfalls nicht. Die wird weiter unter freiem Himmel gespielt, bei jedem Wetter.

Arno Nunn fand, dass es so nicht weitergeht. Er sammelte also mühsam die nötigen 120 Unterstützer-Unterschriften und stellte sich als Bürgermeister zur Wahl. Ohne Liste, ohne Partei. Und dann ist etwas passiert, womit wirklich niemand außer ihm gerechnet hat: Der Hauptkommissar bei der Kripo in Garmisch-Partenkirchen, Abteilung Wirtschaftsdelikte, wurde Ende März tatsächlich gewählt.

Obwohl er nichts mit dem Passionsspiel zu tun hat. Vielleicht aber auch deswegen. Denn Arno Nunn sieht seinen Wählerauftrag darin, den Rhythmus zu durchbrechen, der die Gemeinde prägt. Ein Jahr Probe, ein Jahr Aufführung, acht Jahre Pause. Auch wenn er das Phänomen nach den elf Jahren, die er nun im Ort lebt, immer besser versteht. "Die Leidenschaft für die Passion verbraucht so viel Energie, dass die Menschen danach in eine Lethargie fallen."

Oberammergau ist nicht zu verstehen ohne das Passionsspiel, das aufgrund eines Gelübdes seit 1634 alle zehn Jahre von der Dorfgemeinschaft aufgeführt wird. Vom Spielleiter über die Schauspieler bis zu den Musikern kommen bis auf wenige Ausnahmen nur Einheimische zum Einsatz, mehr als 2200 der gerade mal 5300 Oberammergauer waren es bei der letzten Aufführung im Jahr 2000.

Zwei Jahre lang, eines für die Proben, eines für die Vorführungen von Mai bis Oktober, liegt der Ort im Theaterfieber: In einem Passionsjahr kommen weniger Kinder zur Welt, unter den Alten sterben weniger. Vorher streiten Erneuerer und Konservative so heftig über die nächste Inszenierung, dass immer wieder ein Bürgerentscheid schlichten muss. Doch am ersten Probentag ist das vergessen und das Dorf rauft sich zu der außerordentlichen Leistung zusammen, die es weltberühmt gemacht hat.

Mehr als 500.000 Besucher aus allen Kontinenten kommen zu den 110 Aufführungen im Passionsjahr hierher, was viel Geld in die Gemeindekasse spült: etwa 25 Millionen Euro waren es im Jahr 2000. Doch die sind längst verbraucht, am Ende dieses Jahres wird der Haushalt Schulden von 16 Millionen Euro ausweisen. Der Freistaat Bayern muss eine Bürgschaft über zehn Millionen Euro übernehmen, damit das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen als Aufsichtsbehörde den Haushalt genehmigen kann. Dass das Geld kurz vor dem Passionsjahr knapp wird, ist nichts Neues für die Einheimischen. Besonders ist diesmal, dass ein paar Millionen mehr fehlen als sonst.

"Alles überdimensioniert"

Schon vor dem Passionsspiel 1980 musste das Land Bayern mehrmals mit einer Bürgschaft einspringen, weil Oberammergau nur diese eine große Einnahmequelle hat. "Das ist halt damals kein Problem gewesen, weil der Oberammergauer Max Streibl in München gesessen ist", sagt Rolf Zigon (CSU), der frühere Bürgermeister.

Die Pause danach rührte nur daher, dass 1984 eine Sonderspielzeit anlässlich des 350. Jubiläums eingeschoben wurde. "Fluch und Segen" nennt Zigons Nachfolger Nunn die Passion. Spielleiter Christian Stückl, gebürtiger Oberammergauer, Intendant am Münchner Volkstheater, sitzt seit Jahren im Gemeinderat und sagt: "Wir glauben immer: Der Passion zahlt's schon." In Oberammergau heißt die Passion schon immer der Passion, egal was die übrigen 80 Millionen Deutschen sagen.

Tatsächlich lässt sich im Finanzgebaren der Gemeinde ein fester Rhythmus ablesen: Im Spieljahr nimmt die Gemeinde enorm viel Geld ein und tilgt Schulden. Vom Rest leisten sich die Oberammergauer etwas Besonderes. Nach dem 70er-Spiel ein großes Hallenbad, nach dem 80er-Spiel ein Kurgästehaus, nach dem 90er-Spiel eine Theatersanierung und nach dem Spiel im Jahr 2000 eine Museumssanierung und das Dach für die Bühne. "Alles, was wir haben, ist überdimensioniert", sagt Stückl. "Wir müssen lernen, mehr an die neun Jahre zwischen den Passionen zu denken." Denn regelmäßig vor dem nächsten Spiel geht der Gemeinde dann das Geld aus.

Bürgermeister Nunn will neue Projekte künftig breiter diskutieren und auf ihre langfristigen Folgen für die Gemeinde abklopfen. Und die Gemeinde soll sich nicht mehr ausschließlich über die Passionsspiele definieren.

Ein touristisches Konzept aus Natur, Kultur und Freizeitangebot soll auch in den Jahren zwischen den Spielen mehr Gäste anlocken. Zuerst muss er aber sanieren: sich von der gemeindeeigenen Gärtnerei und dem Campingplatz trennen, eine Bergbahn verkaufen. "Wir müssen alles überdenken."

Das wird in einem Gemeinderat, dessen 20 Mitglieder neun verschiedenen Listen angehören, nicht einfach. Doch auch den Ursprung für die besondere Streitlust der Oberammergauer sieht Nunn in der Passion begründet. "Wer vor 4500 Zuschauern spielt, entwickelt eine besondere Persönlichkeit. Selbstbewusst, eigenständig und leidenschaftlich."

© SZ vom 10.7.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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